[reload all]
[simple read]

Die Wahrheit der Wiedergeburt
Und ihre Bedeutung für die buddhistische Praxis
von
Thanissaro Bhikkhu
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Andreas Hubig
Alternative Formate: [PDF icon]   [book icon] Um eine gedruckte Version diese Buches zu erbitten, schreiben sie bitte an: Buddhistischen Gemeinschaft München oder direkt per email: Email an BGM e.V.

Einleitung   

Immer, wenn Sie beschließen, auf die eine oder andere Art zu handeln, wägen Sie die Konsequenzen Ihres Entschlusses ab. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es um die Entscheidung zwischen etwas geht, das kurzfristig ganz angenehme Wirkungen verspricht, und etwas Mühsames, das erst nach langer Zeit große Wirkungen in Aussicht stellt. Wird die schwerere Wahl die Anstrengung wert sein? Wird die leichtere Entscheidung sich langfristig als unverantwortlich erweisen? Als Mensch, eingebunden im Kontext der Zeit, kann man das nie mit vollkommener Sicherheit wissen.

Zunächst einmal gibt es die Besonderheiten Ihrer eigenen persönlichen Zukunft. Wird Ihr Leben oder das Ihrer Lieben lang genug dauern, um die Resultate Ihrer Entscheidungen zu erleben, oder werden Sie von einem Unglück heimgesucht, welches alles, was Sie getan haben, zunichtemacht?

Dann gibt es noch die ganz allgemeinen größeren Ungewissheiten des Lebens: Können wir unsere Handlungen wählen oder sind alle Entscheidungen durch irgendeine Vergangenheit oder einer jenseits unserer Kontrolle liegenden Macht determiniert? Wenn wir die Wahl haben, lohnt es sich dann, mit den schwierigen Entscheidungen zu kämpfen? Spielen sie wirklich eine Rolle? Und selbst, wenn unsere Entscheidungen eine Rolle spielen, wie weit sollten die Folgen für die Zukunft mit einkalkuliert werden? Wirken sie sich nur auf dieses Leben aus oder auch auf ein Leben nach dem Tode?

Argumente, die auf Logik oder Vernunft gegründet sind, waren noch nie in der Lage, solche Fragen schlüssig zu beantworten. Die Weltreligionen besitzen hierauf keine einheitlichen Antworten, und die empirischen Wissenschaften vermögen es überhaupt nicht, auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Dennoch müssen wir uns alle mit diesen Fragen auseinandersetzen. Mit einem „Ich weiß nicht“ und der Weigerung, sie in Erwägung zu ziehen, wollen wir uns nicht abfinden denn selbst die Weigerung, über diese Dinge nachzudenken, ist ein Wagnis an sich: nämlich, ob sie letztlich eine Rolle spielen oder nicht.

Der Buddha lehrte jedoch, dass diese Fragen durchaus von großer Bedeutung sind, und dass das Erwachen – bei dem die Dimensionen von Raum und Zeit transzendiert werden – uns sehen lässt, wie Entscheidungen innerhalb dieser Dimensionen funktionieren. Man erkennt, dass Entscheidungen real sind, dass sie etwas verändern, und dass unsere Entscheidungen nicht nur auf dieses Leben, sondern auch auf viele Existenzen in der Zukunft Auswirkungen haben können: so lange, wie im Geist immer noch das Verlangen herrscht, welches zu einer Wiedergeburt nach dem Tode führt. Bis wir das Erwachen vollkommen verwirklicht haben, können wir uns dieser Dinge nicht völlig sicher sein. Dennoch, so der Buddha, ist es vernünftig, diese Prinzipien als Arbeitshypothesen anzunehmen, wenn man sich auf dem Weg zum Erwachen befindet und in der Zwischenzeit das Leiden verringern will.

Natürlich bedeutet dies, dass man den Buddha beim Wort nimmt. Und damit geht man, solange das Erwachen noch nicht erreicht ist, wiederum ein Wagnis, eine weitere Wette ein.

Diese kleine Schrift über die Wiedergeburtslehre des Buddha will zeigen, warum es, da wir uns immerfort mit den Wagnissen unseres eigenen Handelns befassen müssen, das vernünftigste wäre, unseren Wetteinsatz auf den Buddha zu setzen.

1. Das Hinterfragen vorhandener Theorien und Vorstellungen   

Die Wiedergeburt hat innerhalb der buddhistischen Tradition immer eine zentrale Rolle gespielt. Die frühesten Aufzeichnungen innerhalb des Pâli-Kanons (MN 26; MN 36) zeigen, dass der Buddha vor seinem Erwachen auf der Suche nach einem Glück war, das nicht den Wechselfällen der wiederholten Geburt, des Alterns, der Krankheit und des Todes unterworfen ist. Einer der Gründe, warum er seine früheren Lehrer verlassen hatte, war, dass er erkannte, dass ihre Lehren nicht zu dem Ziel führten, das er anstrebte, sondern lediglich zu einer Wiedergeburt in einem subtileren Daseinsbereich. In der Nacht seines Erwachens hat-ten zwei der drei Erkenntnisse, die zu seiner Befreiung vom Leiden führten, mit dem Thema der Wiedergeburt zu tun. Die erste Erkenntnis offenbarte ihm die Erinnerung an viele frühere Leben; die zweite Erkenntnis, durch die er das grundlegende Muster erkannte, nach dem die Wesen innerhalb des Universums sterben und wiedergeboren werden, enthüllte ihm die Beziehung zwischen Karma (oder dem Handeln) und der Wiedergeburt.

Als er schließlich die Freiheit vom Leiden erlangte, erkannte er, dass er sein Ziel erreicht hatte, weil er eine Dimension berührt hatte, die nicht nur frei von Geburt war sondern ihn auch davon befreit hatte, jemals wiedergeboren zu werden. Diese neu entdeckte Freiheit von der Wiedergeburt stellte nach dem Erlangen der Befreiung die erste Erkenntnis dar, die sich spontan in seinem Geist erhob.

Wenn er anderen den Pfad zum Erwachen lehrte, definierte er die vier Stufen des Erwachens, die durch den Pfad erlangt werden, hinsichtlich der Anzahl von Wiedergeburten, die für jene verbleiben, welche diese Stufen erreicht haben. Bis zu sieben Wiedergeburten für diejenigen, die die erste Stufe erreichen; eine einzige Rückkehr in den mensch-lichen Daseinsbereich für diejenigen, welche die zweite Stufe erreichen; diejenigen, die die dritte Erwachensstufe erlangen, werden in den Reinen Bereichen wiedergeboren und erlangen dort die vollkommene Befreiung; und schließlich die völlige Befreiung von der Wiedergeburt für diejenigen, welche die vierte Erwachensstufe erlangen (AN 3.86). Gelegentlich kommentierte er die Wiedergeburt eines verstorbenen Schülers, der noch nicht das vollkommene Erwachen erlangt hatte. Als z. B. der Haushälter Anâthapiòùika gestorben war, erschien dieser dem Buddha als ein himmlisches Wesen (MN 143). Wenn einer der vollkommen erwachten Schüler des Buddha starb, beschrieb er dessen erstaunliche Eigenschaften, nämlich dass das Bewusstsein dieses Schülers im Universum nicht länger zu finden ist. Nach seinen Worten sind nur diejenigen der Wiedergeburt unterworfen, die noch Anhaftungen besitzen, nicht aber diejenigen, welche von Anhaftung frei sind (SN 44.9). Und eine seiner eigenen erstaunlichen Aussagen als Buddha, die er am Ende seines Lebens machte, war, dass ihn die Welt nicht mehr sehen werde (DN 1).

Wenn er über weltlichere Angelegenheiten (wie z. B. über den Lohn eines großherzigen und ethischen Verhaltens) sprach, beschrieb er nicht nur den in diesem Leben zu erwartenden Lohn, sondern auch den Lohn, der in der Zukunft zu erwarten ist. Selbst bei Gelegenheiten, wo er darum gebeten wurde, sich nur auf das gegenwärtige Leben zu beschränken, pflegte er das Gespräch damit zu beenden, dass er auf den Lohn dieser heilsamen Handlungen über dem Tod hinaus hinwies (AN 5.34; AN 7.54).

Das Thema der Wiedergeburt ist somit untrennbar mit den Lehren des Buddha verbunden, und die Freiheit von der Wiedergeburt war von Anbeginn der Tradition ein zentrales Merkmal des buddhistischen Ziels. All die verschiedenen buddhistischen Religionen, die sich später in Asien entwickelten, waren sich – trotz ihrer Unterschiede – beim Thema Wiedergeburt einig: Sie alle lehren die Wiedergeburt. Die Wiedergeburt als eine Tatsache wurde selbst von den Traditionen gelehrt, deren Ziel nicht in der Beendigung der Wiedergeburt bestand.

Als diese buddhistischen Religionen jedoch in den Westen kamen, stießen sie auf die Barriere einer modernen westlichen Kultur. Von allen Lehren des Buddha ist die Lehre der Wiedergeburt für westliche Menschen unserer Zeit die am schwersten zu akzeptierende. Ein Teil dieses Widerstands entstammt der Tatsache, dass keine der dominierenden westlichen Weltanschauungen – seien es religiöse oder materialistische – etwas enthalten, das der Vorstellung einer sich wiederholenden Geburt entspricht. Zwar lehrte Platon die Wiedergeburt, doch haben im Westen nur wenige (abgesehen von einigen Anhängern der esoterischen Szene) diesen Aspekt seiner Lehre für mehr als nur einen Mythos gehalten.

Für Menschen, die sich von den Glaubensdogmen westlicher Religionen bevormundet oder abgestoßen fühlten, kommt zudem noch die Schwierigkeit hinzu, dass sie als noch nicht erwachte Menschen die Wiedergeburtslehre auf Glaubensbasis akzeptieren müssen. Sie bevorzugen einen Buddhismus, der keine Glaubensbekenntnisse verlangt, der sich lediglich auf die Vorzüge konzentriert, die in diesem Leben erlangt werden können.

So fragen sich viele Westler, die von den psychologischen Einsichten und meditativen Techniken des Buddha profitiert haben: Können wir die Aussagen des Buddha über Wiedergeburt von der Lehre trennen und dennoch von dem profitieren, was er lehrte? Mit anderen Worten, können wir die Weltanschauung des Buddha außer Acht lassen, seine Psychologie behalten und trotzdem all die Ziele verwirklichen, die diese Lehre uns bietet?

Diese Herangehensweise ist im Westen nicht neu. Im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert erkannten viele Anhänger der europäischen Romantik und des amerikanischen Transzendentalismus, dass sie die Weltanschauung der Bibel nicht annehmen konnten, denn sie waren Kinder einer Zeit neuer wissenschaftlicher Entdeckungen (die sich bis in die geologische Vorzeit und zur astronomischen Unendlichkeit des Raumes erstrecken), welche die Weltanschauung der Bibel in Frage stellten. Dennoch schätzten sie viele der in der Bibel enthaltenen psychologischen Aspekte hoch ein. So entwickelte sich eine historische Herangehensweise an die Bibel, die davon ausgeht, dass ihre Weltanschauung zu den kulturellen Eigenheiten der Zeit gehört, in der sie verfasst wurde, diese Weltanschauung aber mit dem wissenschaftlichen Fortschritt über Bord geworfen werden muss. Nur dann können die psychologischen Einsichten der Bibel in der modernen Welt überleben. Und nicht nur das. Sie können sich sogar auf eine höhere Ebene entwickeln. Indem sie diese überholte Weltanschauung über Bord warf und die Kosmologie den Wissenschaftlern überlies, konnte sich die jüdisch-christliche Tradition intensiver und effektiver auf die eigentliche Sphäre aller Religionen konzentrieren: Die Entwicklung des menschlichen Geistes. Diese Herangehensweise bildete die Grundlage eines liberalen Christentums und reformierten Judentums.

Von dieser Herangehensweise inspiriert, behaupten viele moderne buddhistische Lehrerinnen und Lehrer, dass die Wiedergeburtslehre genauso behandelt werden sollte. Ihrer Ansicht nach war die Wiedergeburt lediglich eine kulturelle Vorstellung aus der Zeit des Buddha, die, weil sie mit unseren kulturellen Vorstellungen und wissenschaftlichen Glaubenssätzen nicht mehr übereinstimmt, aufgegeben werden muss, um so eine Weiterentwicklung der buddhistischen Tradition zu ermöglichen.

Ihre Argumente untermauern diese Lehrerinnen und Lehrer, indem sie Arbeiten von Historikern zitieren, die besagen, dass zur Zeit des Buddha jeder in Indien an die Vorstellung der Wiedergeburt und an die metaphysischen Vorstellungen über Karma und einer persönlichen Identität, welche auf diesen Vorstellungen aufbauen, glaubte; dass es da etwas in uns gibt, das den Tod des Körpers überlebt, und dass unsere Handlungen bestimmen, wo dieses „Etwas“ wiedergeboren wird. Seine Lehre von Karma und Wiedergeburt entsprach ihrer Ansicht nach dem, was damals alle lehrten.

Eine stärkere Version dieses Arguments besagt, dass die Wiedergeburtslehre für die wesentliche Botschaft des Buddha nicht nur irrelevant ist, sondern ihr sogar widerspricht. Wie alle großen Denker konnte er – oder wer auch immer den Pâli-Kanon verfasste und dem Buddha die Wiedergeburtslehre in den Mund legte – nicht erfassen, dass die Vorstellungen seiner Kultur über Karma, Wiedergeburt und persönliche Identität mit seiner zentralen Lehre vom Nichtvorhandensein eines Selbst und den Vier Edlen Wahrheiten im Widerspruch steht. Da wir diese Annahmen nun nicht länger vertreten und sie durch verlässlichere, wissenschaftliche Vorstellungen von einem menschlichen Handeln und der Metaphysik einer „persönlichen“ Identität ersetzt haben, befinden wir uns in einer besseren Lage, um die Vorstellung der Wiedergeburt fallen zu lassen und die buddhistische Tradition umzuformen, damit sie sich deutlicher auf die zentrale Einsicht des Buddha und dem Hauptzweck seiner Lehre konzentrieren kann: die Beendigung des Leidens im Hier-und-Jetzt.

Ironisch ist, dass, wie wir sehen werden, die tatsächlichen historischen Fakten etwas ganz Anderes aussagen. Dies sind die tatsächlichen Fakten:

1) Die Vorstellung von Wiedergeburt war in Indien zur Zeit des Buddha alles andere als allgemein akzeptiert. Einige philosophische Schulen lehnten diese Vorstellung kategorisch ab, während andere diese Vorstellung billigten. Und Vertreter beider Seiten brachten weit auseinander liegende metaphysische Vorstellungen über die persönliche Identität hervor, um ihre Argumente zu untermauern. Mit anderen Worten, selbst diejenigen, die darin übereinstimmten, dass Wiedergeburt stattfindet oder nicht stattfindet, waren darin uneinig, was bzw. was nicht wiedergeboren wird. Zur gleichen Zeit waren diejenigen, die der Wiedergeburtslehre zustimmten, über die Bedeutung uneins, die Karma oder das Handeln im Prozess der Wiedergeburt spielte. Einige behaupteten, dass Handlungen Einfluss auf das Leben nach dem Tode haben werden, andere, dass Handlungen überhaupt keine Rolle spielen.

2) Als der Buddha die Wiedergeburt und deren Beziehung zum Karma lehrte, sprach er also eines der wichtigsten Themen dieser Zeit an. Weil er sich nicht immer mit kontroversen Fragen befasste, muss er erkannt haben, dass die jeweilige Frage das von ihm gesetzte Kriterium der Themen erfüllte, die er ansprechen wollte. Es musste für die Beendigung des Leidens förderlich sein. Und tatsächlich machte er die Wiedergeburtslehre zu einem integralen Teil seiner Erklärung der welt-lichen Rechten Ansicht. Es ist das Maß an Rechter Ansicht, das ein Verständnis von den Mächten und Auswirkungen des menschlichen Handelns bietet und die Möglichkeit berücksichtigt, dass das menschliche Handeln das Leiden beenden kann.

3) Die Wiedergeburt wurde auch zu einem integralen Bestandteil seiner Erklärung von den Vier Edlen Wahrheiten und dem Verständnis von Kausalität (Bedingtes Entstehen) auf dem diese Wahrheiten beruhen. Weil das Schema des Bedingten Entstehens viele Rückkopplungen enthält – in denen ein Faktor die ihn ernährenden Faktoren reproduziert –, ist es ein sich selbst erhaltender Prozess, der das Potential besitzt, sich unendlich lange selbst zu erhalten. Aus diesem Grund besitzt die Geburt das Potential, sich so lange als Wiedergeburt zu wiederholen, bis die Rückkopplungsschleife unterbrochen wird, welche diesen Prozess in Gang hält. Weil das Bedingte Entstehen auf vielen Ebenen arbeitet – von der mikroskopischen Ebene geistiger Ereignisse bis zur makroskopischen Ebene der Lebenszyklen im Universum – zeigt es gleichzeitig, wie kleinste Ereignisse zur Wiedergeburt im makroskopischen Bereich führen können und auch umgekehrt, wie die Praxis des Geistestrainings alle Formen von Leiden – einschließlich das der Wiedergeburt – auf jeder Ebene ein Ende bereiten kann.

In der Praxis bedeutet dies, dass ungeachtet dessen, wie genau man die Ereignisse des Bedingten Entstehens im gegenwärtigen Augenblick auch beobachtet, man diese nicht vollkommen verstehen wird, wenn man das ihr eigene Potential, sich einander unendlich zu erhalten, nicht völlig begreift. Wird dies nicht vollkommen begriffen, ist es auch nicht möglich, sich daraus vollkommen zu befreien.

4) Die Wiedergeburtsbeschreibung des Buddha unterschied sich von den anderen Schulen seiner Zeit, weil er seine Position nicht auf einer metaphysischen Ansicht einer persönlichen Identität (d.h. einer Definition dessen, was wiedergeboren wird) gründete. Indem er die Wiedergeburt in den Kontext des Bedingten Entstehens stellte, setzte er sie in einem phänomenologischen Kontext, d.h. in einen Kontext, der auf direkt erfahrbare Phänomene gerichtet ist. Er lehnte es überdies ab, gegenüber der Frage, ob es dabei eine zugrundeliegende Wirklichkeit der „Dinge“ gibt, einen Standpunkt einzunehmen. Diese Position nahm er aus pragmatischen und strategischen Gründen ein. Indem die Konzentration direkt auf erfahrbare Ereignisse und Prozesse gelenkt wird, können diese durch die Kraft der Aufmerksamkeit und der Absicht umgeleitet werden: weg von dem Leiden, das durch diese Prozesse normalerweise hervorrufen wird, und hin zu einer todlosen Glückseligkeit. Auf diese Weise gleicht die nicht-metaphysische Herangehensweise des Buddha modernen Schulen der Philosophie (der Phänomenologie und des Pragmatismus), die die Beschäftigung mit metaphysischen Vorstellungen über eine Realität jenseits der direkten Erfahrung vermeiden.

5) Dass der Buddha seinen Zeitgenossen nahelegte, ihre metaphysischen Ideen über eine persönliche Identität fallen zu lassen, wenn sie den Pfad mit Erfolg praktizieren wollen, deutet darauf hin, dass er diese Empfehlung auch den Menschen unserer Zeit geben würde. Um so viel wie möglich von seinen Lehren profitieren zu können, ist es notwendig zu erkennen, dass wir metaphysische Vorstellungen über eine persönliche Identität und die Welt haben, und dass diese Vorstellungen – sofern wir sie nicht aufgeben – uns daran hindern, die unmittelbare Erfahrung, so wie sie das Bedingte Entstehen beschreibt, in vollem Umfang zu verstehen.

Die Erfahrung im Licht des Bedingten Entstehens zu verstehen, bedeutet, dass man die zur Wiedergeburt und anderen Leidensformen führenden geistigen Ereignisse und Willensimpulse erkennt und das Wissen entwickelt, welches diese Prozesse beendet. Auch heute ist die Bestätigung, dass der Buddha hinsichtlich der Beziehung zwischen Karma und Wiedergeburt Recht hatte und dass seine Richtigkeit zeitlos ist, Teil der Praxis. Diese Lehren sind ein integraler Bestandteil der Vier Edlen Wahrheiten, insbesondere der Wahrheit vom Pfad, der zur Beendigung des Leidens führt. Der Weiterentwicklung des Buddhismus wäre nicht geholfen, wenn diese Lehren unberücksichtigt blieben. Ohne sie könnte die Lehre ihren Zweck nicht erfüllen.

Obwohl es möglich ist, einigen Nutzen aus den Lehren des Buddha zu ziehen, ohne seine Aussagen über Wiedergeburt zu akzeptieren, sind wir es uns im eigenen Interesse schuldig, diesen Aussagen gegenüber offen zu sein. Weil die Wiedergeburt auf dem gesamten Praxispfad bis zum Ende des Leidens eine derart wichtige Arbeitshypothese darstellt, und weil die Missverständnisse über diesen Punkt so weit verbreitet sind, ist es notwendig, die eigentlichen Lehren des Buddha und deren Kontext etwas ausführlicher zu behandeln. Weil buddhistische Gelehrte in den Jahrhunderten nach dem Buddha oft den vierten Standpunkt des Buddha aufgaben (und sich in metaphysische Diskussionen darüber verstrickten, was wiedergeboren bzw. nicht wiedergeboren wird), müssen wir zudem die frühen Lehrreden des Pâli-Kanons zurate ziehen, um uns ein genaues Bild von der Position des Buddha zu diesem Thema zu verschaffen.

2. Eine alte Kontroverse   

Es ist schwer zu verstehen, warum moderne Wissenschaftler stets die Aussage wiederholen, dass in Indien zur Zeit des Buddha jeder an die Wiedergeburt glaubte. Tatsächlich beweisen die Lehrreden des Pâli-Kanons genau das Gegenteil, und diese Beweise sind seit über einem Jahrhundert in westlichen Sprachen zugänglich.

Der Buddha hat sich oft auf zwei Extreme falscher Ansichten bezogen, die den Fortschritt auf dem Pfad behindern: auf den Ewigkeitsglauben und auf den Vernichtungsglauben. Den Begriff „Vernichtungsglauben“ verwendete der Buddha immer, wenn er von denjenigen sprach, die den Glauben an eine Wiedergeburt leugneten. Anscheinend hat er diesen Begriff nicht selbst erfunden, da MN 22 darüber berichtet, dass andere Lehrer ihm manchmal vorwarfen, ein Vernichtungsgläubiger zu sein.

Andere Passagen im Kanon schildern etwas lebhafter, wie der Vernichtungsglaube in dieser Zeit gelehrt wurde. Insbesondere erwähnen sie zwei bekannte Vertreter des Vernichtungsglaubens. Einer war Ajita Kesakambalin, der Anführer einer materialistischen Sekte. In DN 2 wird folgende Aussage von ihm berichtet:

„‘Es gibt nichts Gegebenes, nichts Dargebotenes, nichts Geopfertes. Es gibt weder eine Frucht noch ein Resultat guter oder schlechter Taten. Weder gibt es diese noch die nächste Welt, weder Mutter noch Vater, noch spontan wiedergeborene Wesen [Wesen, die ohne die Voraussetzung von Eltern im Himmel oder in der Hölle geboren werden]. Es gibt keine Asketen oder Brahmanen, die rechtmäßig lebend, rechtmäßig praktizierend diese und die nächste Welt erklären, nachdem sie sie für sich direkt erkannt und verwirklicht haben.‘“

„‘Eine Person ist ein Verbund aus vier Hauptelementen. Beim Tod kehrt die Erde (im Körper) zur (äußeren) Erd-Substanz zurück und verbindet sich mit ihr. Das Feuer kehrt zur äußeren Feuer-Substanz zurück und verbindet sich mit ihr. Das Flüssige kehrt zur äußeren Flüssigkeits-Substanz zurück und verbindet sich mit ihr. Der Wind kehrt zur äußeren Wind-Substanz zurück und verbindet sich mit ihr. Die Sinneseigenschaften zerstreuen sich im Raum. Vier Männer mit der Trage als Fünftes tragen den Körper des Verstobenen. Ihre Grabreden erklingen nur im Bereich des Leichenfeldes. Die Knochen nehmen die Farbe von Tauben an. Die Opfergaben enden in Asche. Freigiebigkeit wird nur von Narren gelehrt. Die Worte jener, die von einem Dasein nach dem Tode sprechen, sind falsch, sind leeres Geschwätz. Mit der Auflösung des Körpers fallen sowohl die Weisen als auch die Narren der Vernichtung anheim, werden zerstört. Sie existieren nicht über den Tod hinaus.‘“

DN 2

Ein anderer berühmter Vertreter des Vernichtungsglaubens war ein Prinz mit Namen Pâyâsi. Nach DN 23 hegte dieser eine ähnlich materialistische Ansicht wie Ajita Kesakambalin. Dieser nutzte seine Macht, um verurteilte Verbrecher mittels grausamer, quasi-wissenschaftlicher Experimente hinzurichten, um bei dieser Gelegenheit herauszufinden, ob irgend ein Teil des Menschen den Tod überlebt. Einem Schüler des Buddha, Kumâra Kassapa, schilderte er zwei seiner Experimente:

„Wenn, Meister Kassapa, meine Männer mir einen Dieb fangen, einen Übeltäter, und ihn mir mit den Worten: ‚Herr, hier bringen wir Euch einen Dieb, einen Übeltäter.‘, vorführen und sagen ‚Verhängen Sie nach Belieben jede Strafe über ihn.‘, dann sage ich, ‚Sehr wohl, Ihr Meister. Dann sperrt diesen Mann bei lebendigen Leibe in ein Fass aus gebranntem Ton, versiegelt die Öffnung mit feuchtem Leder und mit einer dicken Schicht feuchter Tonerde. Dann stellt das Fass in einen Brennofen und zündet das Feuer an.‘“

„Nachdem sie meine Worte mit ‚Sehr wohl‘ bestätigten, sperrten sie diesen Mann bei lebendigem Leibe in ein Fass aus gebranntem Ton, versiegelten die Öffnung mit feuchtem Leder und einer dicken Schicht feuchter Tonerde, stellten das Fass in einen Brennofen und zündeten das Feuer an. Sobald wir erkannt hatten: ‚Dieser Mann ist gestorben‘, nahmen wir das Fass aus dem Brennofen, entfernten das Siegel, öffneten den Deckel und schauten aufmerksam (mit dem Gedanken) auf die Öffnung: ‚Vielleicht werden wir seine Seele heraustreten sehen.‘ Doch seine Seele konnten wir nicht heraustreten sehen …‘“

„Wenn, Meister Kassapa, meine Männer mir einen Dieb fangen, einen Übeltäter, und ihn mir mit den Worten: ‚Herr, hier bringen wir Euch einen Dieb, einen Übeltäter.‘, vorführen und sagen: ‚Verhängen Sie nach Belieben jede Strafe über ihn.‘, dann sage ich: ‚Sehr wohl, Ihr Meister. Dann, nachdem Ihr diesem Mann bei lebendigem Leib mit einer Waage gewogen habt sollt Ihr ihn mit einer Bogensehne erdrosseln und seinen Leichnam anschließend noch einmal mit einer Waage wiegen.‘“

„Nachdem sie meine Worte mit ‚Sehr wohl‘ bestätigten, begannen sie, diesen Mann bei lebendigem Leib mit einer Waage zu wiegen, erdrosselten ihn anschließend mit einer Bogensehne und wogen dann den Körper des Toten erneut mit der Waage. ‚Als Lebendiger ist er leichter, flexibler und beweglicher. Nachdem er jedoch gestorben war, ist er schwerer, steifer und nicht mehr so beweglich.‘“

„Aus diesem Grund, Meister Kassapa, glaube ich: ‚Es gibt keine andere Welt, es gibt keine spontan wiedergeborenen Wesen, es gibt weder eine Frucht noch Resultate guter oder schlechter Taten.‘“

— DN 23

Die Lehrrede DN 1 gibt ein umfassenderes Bild von den damals herrschenden Ansichten Vernichtungsgläubiger. Sie ordnet diese Ansichten danach ein, wie die Vernichtungsgläubigen das nach dem Tod vernichtete Selbst definieren. Insgesamt werden sieben Typen beschrieben. Drei definierten das Selbst als einen Körper: entweder als einen aus den vier materiellen Elementen zusammengesetzten physischen Körper oder als einen göttlichen, physischen Körper oder als einen Astralkörper. Die von Ajita Kesakambalin und Prinz Pâyâsi vertretenen Ansichten fallen unter die erste der drei Definitionen. Vier weitere Ansichten des Vernichtungsglaubens definierten das Selbst jedoch als formlos: als die Erfahrung der Dimensionen von Raumunendlichkeit, Bewusstseinsundendlichkeit, Nichtsheit oder Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung. In allen sieben Fällen gehen diese Lehren davon aus, dass das Selbst, nach welcher Definition auch immer, mit dem Tod untergeht und vernichtet wird.

Der Pāli-Kanon nennt mindestens vier nichtbuddhistische Schulen, die die Vorstellung von der Wiedergeburt direkt bestätigen: Die Brahmanen (SN 42.6; AN 4.235), Jains (MN 101), und zwei asketische (samana) Schulen, die jeweils von Makkhali Gosâla oder von Pakudha Kaccāyana angeführt wurden. Dass das Handeln sich auf die Wiedergeburt auswirkt, bestätigten auch die Lehren der Jains und einiger Brahmanen, wie wir aus anderen Quellen wissen. Der Kanon zeigt jedoch, dass die zwei asketischen Lehrer verneinten, dass das Handeln überhaupt eine Rolle bei der Wiedergeburt spielt.

„[Makkhali Gosāla:] ‚Obwohl man denken könnte, »Durch dieses ethische Verhalten, diese Praxis, diese Entsagung oder dieses heilige Leben werde ich unreifes Karma zum Reifen bringen und gereiftes Karma immer dann auslöschen, wenn es berührt wird« − ist es doch unmöglich. Angenehmes und Schmerzhaftes sind bemessen; das Weiterwandern ist begrenzt. Es gibt kein Verkürzen oder Verlängern, kein Beschleunigen oder Verlangsamen. Wie ein Wollknäuel, das, nachdem es geworfen wurde, einfach durch Rollen und Abwickeln zu seinem Ende gelangt, werden auch die Weisen und die Narren, nachdem sie wiedergeboren und weitergewandert sind, dem Schmerz ein Ende bereiten.‘“

DN 2

„[Pakudha Kaccāyana:] ‚Da gibt es diese sieben Substanzen – ungestaltet, nicht reduzierbar, ungeschaffen, ohne einen Schöpfer, starr, stabil wie ein Berggipfel, wie eine Säule fest stehend –, die sich nicht verändern, nicht anders werden, die sich nicht gegenseitig stören, die nicht fähig sind, einander Vergnügen, Schmerz oder sowohl Vergnügen als auch Schmerz zuzufügen. Welche sieben? Die Erd-Substanz, die Flüssigkeits-Substanz, die Feuer-Substanz, die Wind-Substanz, das Angenehme, das Schmerzhafte und die Seele als Siebentes. Dies sind die sieben Substanzen – ungestaltet, nicht reduzierbar, ungeschaffen, ohne einen Schöpfer, starr, stabil wie ein Berggipfel, wie eine Säule fest stehend –, die sich nicht verändern, nicht anders werden, die sich nicht gegenseitig stören, die nicht fähig sind, einander Vergnügen, Schmerz oder sowohl Vergnügen als auch Schmerz zuzufügen.‘“

DN 2

Über die genannten Vertreter der Wiedergeburtslehre hinaus, bietet DN 1 einen Überblick über die verschiedenen Ansichtstypen, die den „Ewigkeitsgläubigen“ und „teilweise Ewigkeitsgläubigen“ zugeschrieben werden. Ewigkeitsgläubige wie Pakudha Kaccāyana behaupteten, dass die Seele sich innerhalb des Kreislaufs der Wiedergeburten überhaupt nicht verändert. Teilweise Ewigkeitsgläubige behaupteten, dass einige Seelen ihre Position im Universum veränderten (und sich ihre Erfahrung von Wohlgefühl und Schmerz somit während ihrer verschiedenen Existenzen verändert), wohingegen andere ihre Position im Universum nie veränderten.

Obwohl der Pāli-Kanon diese Wiedergeburtstheorien nicht näher erörtert, wissen wir aus anderen zeitgenössischen Quellen, dass sowohl die Jains als auch die Brahmanen sehr bemüht waren, die Art von Selbst oder Essenz, welche wiedergeboren wird, zu definieren. Und es ist möglich, dass es bei Makkhali Gosāla und Pakudha Kaccāyana nicht anders war, denn ihre Wiedergeburtstheorien gehen von einer Seele oder Substanz aus, die sich innerhalb der Person befindet und nach dem Tod wiedergeboren wird. Am ausführlichsten wird das Seelenkonzept in den Upaniôaden der Brahmanen behandelt. In den Upaniôaden finden sich viele Theorien hinsichtlich dessen, was wiedergeboren wird: Das Selbst wird zum Bewusstsein und verlässt den Körper (BAU VI.4.2); das Selbst ist körperlos, unsterbliche Atem-Energie und ist mit Brahman, der dem Universum zugrunde liegenden Kraft, identisch (BAU IV.4.7); das eigene höhere Selbst ist ein Astralleib (ChU VIII.12), der vom Geist wahrgenommen werden kann (KaúhU II.3.9).

In den Upaniṣaden finden sich auch viele unterschiedliche Beschreibungen vom Schicksal der Seele nach dem Tod. Die interessanteste Beschreibung ist der Bericht in ChU V.3-10, der die Lebewesen in drei Klassen unterteilt. Diejenigen, die der am höchsten entwickelten Klasse angehören, vereinigen sich nach dem Tod mit Brahmā. Die in der Zwischenklasse Befindlichen steigen Stufe für Stufe bis zum Mond empor, von dem sie sich ernähren. Als Regen kehren sie dann zur Erde zurück, werden erst als Pflanzen und dann als Tiere wiedergeboren, die sich von diesen Pflanzen ernähren. Diejenigen mit gutem Karma werden von Menschen verspeist; jene mit schlechten Karma werden von niederen Tieren verspeist. Die unterste Klasse der Wesen (zu der winzige Insekten gehören) erleidet ein Schicksal, das in den Upaniṣaden noch nicht einmal Erwähnung findet.

So ist nachvollziehbar, dass beide Lager bei der Diskussion um die Wiedergeburt es für notwendig hielten, sich hinsichtlich zweier Fragen zu positionieren: Die erste Frage drehte sich darum, was eine Person ist; und, davon ausgehend, ob diese Person nach dem Tod vernichtet wird oder nicht. Mit anderen Worten, beide Seiten glaubten, ihre Positionen durch die Annahme eines Standpunktes erklären zu müssen, der sich auf der Metaphysik einer persönlichen Identität gründet.

Die zweite Frage unter den Fürsprechern der Wiedergeburt betraf die Beziehung des menschlichen Handelns zur Wiedergeburt. Es ging darum, ob der Kreislauf der Wiedergeburten durch das menschliche Handeln beeinflusst werden kann oder nicht.

Aufgrund dieser großen Vielfalt von Ansichten auf beiden Seiten, ist es offensichtlich, dass die Wiedergeburtsvorstellung in der indischen Kultur nicht selbstverständlich war. Sie war eine der am weitesten verbreiteten Kontroversen zur Zeit des Buddha.

Diese Kontroverse beschränkte sich nicht nur auf die Philosophen. In einer seiner bekanntesten Lehrreden wendet sich der Buddha an die Kālāmas, einer Gruppe von skeptischen Dorfbewohnern, und erklärt ihnen, dass ein Mensch durch das Vermeiden von unheilsamen Handlungen und durch die Entwicklung eines von Böswilligkeit freien Geistes im Hier-und-Jetzt vierfache Gewissheit erlangt:

„‘Gibt es da eine Welt nach dem Tod und gibt es die Frucht guter und schlechter Taten, dann ist das die Grundlage, von der aus ich, beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode, an einem glücklichen Bestimmungsort, in himmlischer Welt wiedererscheinen werde.‘ Dies ist die erste Gewissheit, zur der man gelangt.“

„‘Gibt es da keine Welt nach dem Tod und gibt es keine Frucht guter und schlechter Taten, dann wird mein gegenwärtiges Leben sorglos sein – frei von Feindschaft, frei von Böswilligkeit, frei von Schwierigkeiten.‘ Dies ist die zweite Gewissheit, zu der man gelangt.“

„‘[Auch] Wenn durch Handlungen Unheilsames gewirkt wurde, so habe ich niemandem willentlich etwas Böses getan. Woher soll mich das Leiden berühren, wenn ich doch nichts Böses getan habe?‘ Dies ist die dritte Gewissheit, zu der man gelangt.“

„‘Wenn aber durch Handlungen nichts Unheilsames gewirkt wurde, dann kann ich mich in beider Hinsicht als geläutert betrachten.‘ Dies ist die vierte Gewissheit, zur der man gelangt.“

AN 3.65

Wenn die Vorstellung von der Wiedergeburt und ihrer Beziehung zum karmischen Wirken im alten Indien allgemein akzeptiert worden wäre, dann hätte der Buddha den Kālāmas nicht diese Gewissheiten in Aussicht stellen müssen.

Das bedeutet, dass die Karma- und Wiedergeburtslehre des Buddha nicht einfach als ein unverarbeitetes Überbleibsel seiner Kultur abgetan werden kann. Indem er die Wiedergeburt lehrte, sprach er ganz bewusst ein heiß debattiertes Thema an. Und die Menschen erwarteten von ihm eine klare Erklärung dessen, wie und warum Wiedergeburt stattfindet oder nicht stattfindet.

3. Wiedergeburt und Handeln   

Dennoch bleibt die Frage, warum der Buddha es für nötig hielt, die Frage von Karma und Wiedergeburt anzusprechen. Wir wissen, dass er sich weigerte, gegenüber anderen damals heiß diskutierten Fragen einen Standpunkt einzunehmen (z. B. ob das Universum ewig ist oder nicht (MN 63)). Was veranlasste ihn also hier einen Standpunkt einzunehmen?

Der erste Teil der Antwort besteht darin, dass die Erkenntnis von der Wiedergeburt ein integraler Bestandteil seiner Erwachenserfahrung war und diese in allen drei Erkenntnissen, die zu seiner Verwirklichung der vollkommenen Erlösung führten, eine Rolle spielte. Das Wissen über die Wirkungsweise von Karma spielte in der zweiten und dritten Erkenntnis eine Rolle.

In der ersten Erkenntnis erinnerte er sich an viele Äonen seiner früheren Leben:

„Als mein Geist derart konzentriert, geläutert, leuchtend, fleckenlos, frei von Verunreinigungen, biegsam, formbar, ausgerichtet und unerschütterlich geworden war, richtete ich ihn auf das Wissen von der Erinnerung meiner vergangenen Leben. Ich erinnerte mich an mannigfaltige vergangene Leben, d.h. an eine Geburt, zwei Geburten … fünf, zehn … fünfzig, einhundert, eintausend, einhunderttausend, an viele Äonen, in denen sich das Universum zusammenzog, an viele Äonen, in denen sich das Universum ausdehnte, an viele Äonen, in denen sich das Universum zusammenzog und ausdehnte: ‚Dort hatte ich diesen oder jenen Namen, gehörte dieser oder jener Familie an, war von dieser o-der jener Erscheinung. Ich pflegte dieses oder jenes zu essen, erlebte so Vergnügen und Schmerz, erlebte so das Ende meines Lebens. Nachdem ich aus diesem Zustand verschieden war, erschien ich woanders wieder. Auch dort hatte ich diesen oder jenen Namen, gehörte dieser oder jener Familie an, war von dieser oder jener Erscheinung. Ich pflegte dieses oder jenes zu essen, erlebte so Vergnügen und Schmerz, erlebte so das Ende meines Lebens. Nachdem ich aus diesem Zustand verschieden war, erschien ich woanders wieder. So erinnerte ich mich an meine vielen vergangenen Leben mit all ihren Eigenschaften und Einzelheiten.“

„Dies war die erste Erkenntnis, zu der ich während der ersten Nachtwache gelangte. Die Unwissenheit war vernichtet; Wissen offenbarte sich; die Dunkelheit war gewichen; Licht erschien – wie es bei einem geschieht, der achtsam, hingebungsvoll und entschlossen weilt.“

MN 19

Während der zweiten Nachtwache gelangte er zu seiner zweiten Erkenntnis, die Einsicht, wie die Wesen allgemein nach dem Tode wiedergeboren werden:

„Als mein Geist derart konzentriert, geläutert, leuchtend, fleckenlos, frei von Verunreinigungen, biegsam, formbar, regelmäßig und unerschütterlich geworden war, richtete ich ihn auf das Wissen vom Sterben und Wiedererscheinen der Wesen. Mit dem himmlischen Auge, das geläutert und dem menschlichen Auge überlegen ist, sah ich Wesen sterben und wiedererscheinen, und ich erkannte, wie sie aufgrund ihres Karma zu geringem oder hohem Ansehen gelangten, wie sie schön und hässlich wurden, wie sie im Glück und Unglück lebten: ‚Diese Wesen, die durch ein unheilsames Verhalten durch Körper, Sprache und Geist handelten, die die Edlen verunglimpften, falsche Ansichten hegten und unter dem Einfluss dieser falschen Ansichten handelten, wurden beim Zerfall des Körpers, nach dem Tod in einem Daseinsbereich voller Entbehrungen wiedergeboren, an einem unheilvollen Bestimmungsort, in den niederen Bereichen, in der Hölle. Die Wesen aber, die durch ein heilsames Verhalten durch Körper, Sprache und Geist handelten, die die Edlen verehrten, die richtige Ansichten hegten und unter dem Einfluss dieser richtigen Ansichten handelten, wurden beim Zerfall des Körpers, nach dem Tod an einem glücklichen Bestimmungsort, in himmlischen Bereichen wiedergeboren.‘ So erkannte ich mit dem himmlischen Auge, das geläutert und dem menschlichen Auge überlegen ist, wie die Wesen starben und wiedererschienen, und wie sie aufgrund ihres Karma zu geringem oder hohem Ansehen gelangten, wie sie schön und hässlich wurden, wie sie im Glück und Unglück lebten.“

„Dies war die zweite Erkenntnis, zu der ich während der zweiten Nachtwache gelangte. Die Unwissenheit war vernichtet; Wissen offenbarte sich; die Dunkelheit war gewichen; Licht erschien – wie es bei einem geschieht, der achtsam, hingebungsvoll und entschlossen weilt.“

MN 19

In seiner dritten Erkenntnis während dieser Nacht nahm der Buddha die aus der zweiten Erkenntnis gewonnenen Einsichten auf der makroskopischen Erfahrungsebene (wobei es darum geht, welche Rolle die Handlungen (Willensabsichten) und Ansichten bei der Formung von Ereignissen im Laufe der Zeit im gesamten Universum spielen) und übertrug sie auf die mikroskopische Ebene: auf Phänomene, die unmittelbar in seinem Geist gegenwärtig waren. Er fand heraus, dass auf beiden Ebenen das gleiche kausale Muster arbeitete. Dies war eine seiner wichtigsten Einsichten, die zu seinem Erwachen führten. Er erforschte die mikroskopische Ebene sogar noch weiter, um herauszufinden, welche Absichten und Ansichten zu einem Ende der Absichten (AN 4.235), zu einem Ende der Ansichten (AN 10.93) und somit zu einem Ende der Wiedergeburt führen könnten. Und er entdeckte seine Antwort in Ansichten, die er in den Vier Edlen Wahrheiten über das Leiden zum Ausdruck brachte:

„Als der Geist derart konzentriert, geläutert, leuchtend, fleckenlos, frei von Verunreinigungen, biegsam, formbar, regelmäßig und unerschütterlich geworden war, richtete ich ihn auf das Wissen von der Beendigung der Triebflüsse. Ich erkannte der Wirklichkeit entsprechend: ‚Dies ist Leiden … Dies ist die Ursache des Leidens … Dies ist das Verlöschen des Leidens … Dies ist der Weg, der zum Verlöschen des Leidens führt … Dies sind die Triebflüsse … Dies sind die Ursachen der Triebflüsse … Dies ist das Verlöschen der Triebflüsse … Dies ist der Weg, der zum Verlöschen der Triebflüsse führt.‘“

„Mein Herz, das dies erkannte, dies sah, war von dem Triebfluss der Sinnlichkeit befreit, war von dem Triebfluss des Werdens befreit, war von dem Triebfluss der Unwissenheit befreit. Mit der Befreiung kam das Wissen: ‚Befreit‘. Ich erkannte: ‚Geburt ist zu Ende, das heilige Leben ist erfüllt, die Aufgabe ist getan. Darüber hinaus gibt es nichts mehr in dieser Welt.‘“

„Dies war die dritte Erkenntnis, zu der ich während der dritten Nachtwache gelangte. Die Unwissenheit war vernichtet; Wissen offenbarte sich; die Dunkelheit war gewichen; Licht erschien – wie es bei einem geschieht, der achtsam, hingebungsvoll und entschlossen weilt.“

MN 19

Auf diese Weise wurden die ersten zwei Erkenntnisse durch die dritte Erkenntnis verwirklicht, welche wiederum die Wirklichkeit der ersten beiden Erkenntnisse bestätigte. Durch Anwendung der Rechten Ansicht, der Handlungen folgen, die den Prozess der sich wiederholenden Geburt beenden, offenbarte die dritte Erkenntnis, dass es zunächst einmal die Absicht selbst ist, die den Prozess der wiederholten Geburt anfacht. Dies bedeutet, dass das Wissen über Wiedergeburt und ihre Beziehung zu karmischem Wirken ein integraler Bestandteil der Erkenntnis war, die die vollkommene Erlösung des Buddha auslöste und dieser folgte.

Dennoch erklärt die Tatsache, dass die Erkenntnis der Wiedergeburt Teil seines Erwachens war, nicht vollends, warum der Buddha das Thema zu Beginn seiner Lehrtätigkeit ansprach. Schließlich gab es nach seiner eigenen Aussage viele andere Dinge, die er während seines Erwachens erfahren hatte und die er nicht lehren wollte, weil er sie für den Befreiungsweg seiner künftigen Schüler für ungeeignet hielt. Er beschränkte sich auf das Lehren der Vier Edlen Wahrheiten, weil „sie zielführend sind, weil sie zu den Grundlagen des heiligen Lebens gehören, zur Abwendung führen, zu Gierlosigkeit, zum Verlöschen, zur Ruhe, zur direkten Einsicht, zum Selbsterwachen, zur Ent-Bindung“ (SN 56.31).

Dies deutet darauf hin, dass er erkannt hatte, dass zwischen dem Thema Wiedergeburt und den Vier Edlen Wahrheiten eine enge Beziehung besteht. Und wenn wir diese Wahrheiten untersuchen, stellt sich heraus, dass die Wiedergeburt beim Verständnis vom Leiden, der Ersten Edlen Wahrheit, eine herausragende Rolle spielt. Sie spielt auch bei der Zweiten Edlen Wahrheit eine Rolle, und zwar beim Verständnis der Leidensursachen (Verlangen und Anhaften) sowie innerhalb der transzendenten Rechten Ansicht, die den Praxispfad zur Beendigung des Leidens anführt (die Vierte Edle Wahrheit). Sie spielt auch auf der weltlichen Ebene der Rechten Ansicht eine herausragende Rolle, weil sie den Kontext bietet, um die Bedeutung und den Zweck der Vier Edlen Wahrheiten zu verstehen.

Die Beziehung zwischen den zwei Ebenen der Rechten Ansicht (weltlich und überweltlich/transzendent) spiegelt sich einerseits in der ersten und zweiten Erkenntnis wider, und andererseits in der dritten Erkenntnis, die der Buddha in der Nacht seines Erwachens erlangte. Beide dienen einem strategischen Zweck. Die weltliche Rechte Ansicht, welche in Begriffen wie „Wesen“ und „Welten“ formuliert ist, unterstreicht die Wirksamkeit des Handelns. Das Prinzip, nach dem Handlungen tatsächlich Konsequenzen haben. Dieses Prinzip eröffnet die Möglichkeit, dass die transzendente Rechte Ansicht im Sinne einer Handlungsanleitung das Leiden beenden kann. Die überweltliche Rechte Ansicht transzendiert dann Begriffe wie „Wesen“ und „Wel-ten“, um sich direkt auf die leidverursachenden Handlungen innerhalb des Geistes zu konzentrieren, so dass diese Handlungen aufgegeben werden können. Dies lässt das Leiden enden, und an diesem Punkt werden auch alle Ansichten fallen gelassen.

Um die Wirksamkeit des Handelns zu demonstrieren, betont die weltliche Rechte Ansicht (entgegen der Ansicht von Pakudha Kaccāyana), dass es so etwas wie eine Handlung gibt, und (entgegen der Ansicht von Ajita Kesakambalin und Makkhali Gosāla), dass diese Handlung tatsächlich Konsequenzen hervorruft. Weil die Vier Edlen Wahrheiten lehren, dass Leiden und Unzufriedenheit die Resultate von Handlungen sind, und dass diese Resultate durch Handlungen zum Versiegen gebracht werden können, ist dieses Verständnis des Handelns notwendig, um zu erklären, warum die Vier Edlen Wahrheiten ein realistisches Bild dessen bieten, was ein Mensch zur Beendigung des Leidens tun kann.

In direkter Verneinung des von Ajita Kesakambalin vertretenen Vernichtungsglaubens lautet die Standarddefinition der weltlichen Rechten Ansicht:

„Es gibt Gegebenes, Gespendetes, Geopfertes. Es gibt Früchte und Resultate guter und schlechter Handlungen. Es gibt diese Welt und die nächste Welt. Es gibt Mutter und Vater. Es gibt spontan wiedergeborene Wesen, es gibt Asketen und Brahmanen, die rechtmäßig lebend, rechtmäßig praktizierend diese und die nächste Welt erklären, nachdem sie sie für sich direkt erkannt und verwirklicht haben.‘“

MN 117

Der in dieser Passage vorkommende Ausdruck „nächste Welt“ bezieht sich auf das Leben nach dem Tod. Der Verweis auf das Gegebene usw. bekräftigt, dass diese Handlungen tatsächlich Resultate bewusster Entscheidungen sind und zu Wohlsein und Glück führen. Der Verweis auf Asketen und Brahmanen, die beide Welten kennen, ist ein Ausdruck von Überzeugung: Vielleicht ist man noch nicht imstande, die nächste Welt zu erfahren, aber da ist das Wissen, dass es Menschen gibt, die ihren Geist soweit trainiert haben, dass sie diese Welt direkt erfahren können. Weil „Asketen und Brahmanen“ (im Kontext dieser Passage) diejenigen sind, die dem Pfad erfolgreich bis zum Erwachen gefolgt sind, und weil alle Menschen das Potential besitzen, dasselbe zu tun, dient diese Überzeugung als eine Arbeitshypothese. Diese Dinge werden auf Vertrauensbasis angenommen, bis sie durch eigene Erfahrung bestätigt werden können. 

Ein Grund, warum der Buddha das Vertrauen in die Wiedergeburt als eine nützliche Arbeitshypothese empfahl, war, wie wir angemerkt haben, dass er ein heilsames menschliches Handeln lehren musste, welches stark und verlässlich genug war, um das Ende des Leidens herbeizuführen; und seine Lehre über die Konsequenzen heilsamer und unheilsamer Handlungen wäre ohne den Bezug auf die Wiedergeburt unvollständig und somit unhaltbar.

Dies liegt daran, weil die Trennlinie, die er zwischen dem Heilsamen und dem Unheilsamen zieht, auf den Konsequenzen der Handlungen beruht: Die Funktion des Karma mag komplex sein, aber heilsame Handlungen führen immer in Richtung Glück und Wohlsein, während unheilsame Handlungen immer leidhafte und schädliche Folgen nach sich ziehen. Diese Unterscheidung entspricht nicht nur der Definition dieser Konzepte, sondern stellt auch die Motivation für das Aufgeben unheilsamer und die Entwicklung heilsamer Handlungen dar.

Diese Motivation ist notwendig, denn obwohl Menschen von Natur aus nicht schlecht sind, sind sie von Natur aus auch nicht gut. Wenn sie nicht auf die Konsequenzen ihrer Handlungen achten, verhalten sie sich unheilsam. Aus diesem Grund sagte der Buddha, dass die Achtsamkeit die Wurzel alles Heilsamen ist (AN 10.15). . Um heilsame Eigenschaften zu entwickeln, müssen die im unheilsamen Verhalten steckenden Gefahren, aber auch die Vorteile eines heilsamen Verhaltens erkannt werden. Weil es manchmal viele Leben dauert, bis den eigenen Handlungen Resultate folgen, macht ein vollständiger und überzeugender Fall, nach dem unheilsame Handlungen immer vermieden und heilsame Handlungen immer entwickelt werden sollten, eine Perspektive notwendig, die sich nur ergibt, wenn die Handlungsresultate über viele Lebenszeiten gesehen werden. 

Gewiss, zeigen sich einige Handlungsresultate oft in diesem Leben:

Nachdem der Ehrwürdige Ānanda sich zum Erhabenen begeben und diesen ehrfurchtsvoll begrüßt hatte, setzte er sich zur Seite nieder. Und der Erhabene sprach zum Ehrwürdigen Ānanda: „Ich sage nachdrücklich, dass körperliches Fehlverhalten, sprachliches Fehlverhalten und geistiges Fehlverhalten gemieden werden sollte.“

„Hinsichtlich dieser Erklärung des Erhabenen, dass körperliches Fehlverhalten, sprachliches Fehlverhalten und geistiges Fehlverhalten gemieden werden sollte, welche Nachteile wären zu erwarten, wenn ein solches Fehlverhalten gezeigt würde?“

„… Man macht sich Vorwürfe, wird von umsichtigen Menschen nach genauer Betrachtung kritisiert, der eigene schlechte Ruf verbreitet sich, man stirbt mit verwirrtem Geist und erscheint – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – in einem von Entbehrung geprägten Daseinsbereich, an einem unglücklichen Bestimmungsort, in den niederen Bereichen, in der Hölle…“

„Ānanda, ich sage nachdrücklich, dass gutes körperliches Verhalten, gutes sprachliches Verhalten und gutes geistiges Verhalten gepflegt werden sollte.“

„Hinsichtlich der Erklärung des Erhabenen, dass gutes körperliches Verhalten, gutes sprachliches Verhalten und gutes geistiges Verhalten gepflegt werden sollte – welchen Lohn hätte man zu erwarten, wenn ein solches Verhalten gezeigt würde?“

„… Man macht sich keine Vorwürfe, wird von umsichtigen Menschen nach genauer Betrachtung gelobt, der eigene gute Ruf verbreitet sich, man stirbt mit klarem Geist und erscheint – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – an einem glücklichen Bestimmungsort, in einer himmlischen Welt.“

AN 2.18

Für Menschen, die sich damit schwertun, sich ein Leben nach dem Tode vorzustellen, können die in diesem Leben sichtbaren Konsequenzen der eigenen Handlungen ausreichen, um sich um Achtsamkeit zu bemühen. Dennoch weist der Buddha darauf hin, dass ein Fehlverhalten im gegenwärtigen Leben oft auch angenehme Resultate haben kann, und er macht sich über diejenigen lustig, die darauf beharren, dass die Resultate guter und schlechter Handlungen sich immer im Hier-und-Jetzt einstellen.

„Es gibt, Hausherr, einige Asketen und Brahmanen, die folgende Lehren und Ansichten vertreten: ‚All diejenigen, die Lebewesen töten, erfahren im Hier-und-Jetzt Schmerz und Kummer. All diejenigen, die Nichtgegebenes nehmen … die sich dem verbotenem Geschlechtsverkehr hingeben … die lügen, erfahren im Hier-und-Jetzt Schmerz und Kummer.‘“

„Man kann aber eine bestimmte Person beobachten, die mit Girlanden geschmückt, herausgeputzt, frisch gebadet und zurechtgemacht, mit gepflegtem Haar und Bart, sich wie ein König an der sinnlichen Ausstrahlung der Frauen vergnügt. Man erkundigt sich nach ihm: ‚Mein guter Mann, was mag dieser Mann wohl getan haben, dass er so mit Girlanden geschmückt ist … als wäre er ein König?‘ Und sie antworten: ‚Mein guter Mann, dieser Mann hat den Feind des Königs angegriffen und getötet. Der König belohnte ihn dafür, weil er sehr zufrieden mit ihm war. Deshalb sieht man ihn so mit Girlanden geschmückt … als wäre er ein König.‘“

„Dann kann man eine andere Person beobachten, der man mit einem starken Seil die Arme fest am Rücken gebunden und das Kopfhaar geschoren hat, wie sie beim Klang einer lauten Trommel von Straße zu Straße geführt wird, von Kreuzung zu Kreuzung, durch das Süd-Tor der Stadt hinausgeführt und südlich der Stadt enthauptet wird. Man erkundigt sich nach ihr: ‚Mein guter Mann, was mag dieser Mann wohl getan haben, dass man ihn mit einem starken Seil gefesselt … und vor dem Süd-Tor der Stadt enthauptet hat?‘ Und sie antworten: ‚Mein guter Mann, dieser Mann war ein Feind des Königs: Er hat einem Mann oder einer Frau das Leben genommen. Aus diesem Grund bestrafen ihn die Herrscher auf diese Weise, nachdem sie ihn gefangen genommen haben.‘“

[Der Buddha zitiert daraufhin ähnliche Anlässe, bei denen einige Menschen für Diebstahl, sexuelles Fehlverhalten und Lügen belohnt und andere Menschen bestraft werden.] „Was denkst du, Hausmann: Hast du jemals solch einen Fall gese hen oder davon gehört?“

„Ehrwürdiger, ich habe solch einen Fall schon beobachtet und auch davon gehört. Und ich werde [auch in Zukunft] von solchen Fällen hören.“

„Wenn also, Hausmann, jene Asketen und Brahmanen, die eine solche Lehre und Ansicht vertreten, Folgendes sagen: ‚All diejenigen, die Lebewesen töten [usw.] werden im Hier-und-Jetzt Schmerz und Kum-mer erfahren‘, sprechen sie die Wahrheit oder die Unwahrheit?“

„Sie sprechen die Unwahrheit, Ehrwürdiger.“

„Und all diejenigen, die da haltlose Unwahrheit sprechen: Verhalten sie sich moralisch oder unmoralisch?“

„Unmoralisch, Ehrwürdiger.“

„Und jene, die unmoralisch und von schlechtem Charakter sind: Praktizieren sie richtig oder falsch?“

„Falsch, Ehrwürdiger.“

 „Und jene, die falsch praktizieren: Haben sie eine falsche Ansicht oder eine richtige Ansicht?“

„Eine falsche Ansicht, Ehrwürdiger.“

„Und kann man jenen vertrauen, die eine falsche Ansicht haben?“

„Nein, Ehrwürdiger.“

— SN 42.13

Um eine falsche Ansicht und den ihr gebührenden Spott zu vermeiden, hielt der Buddha es für notwendig, sein Wissen über ein Leben nach dem Tode zu offenbaren. Und auch die Perspektive auf nicht nur ein, sondern auf viele Leben nach dem Tode musste er miteinbeziehen. Dies geschah, weil es Fälle gibt, in denen sich Menschen in diesem Leben unheilsam verhalten haben, aber unmittelbar nach dem Tod eine angenehme Wiedergeburt erlangten, und andere, in denen sich Menschen in diesem Leben heilsam verhalten, aber unmittelbar nach dem Tod eine leidvolle Wiedergeburt erlangten (MN 136). Meditierende, die fähig sind, nur ein Leben nach dem Tod zu erkennen und Fälle wie diese sehen, würden die Konsequenzen der Handlungen vermutlich falsch interpretieren. Nur, wenn wir das komplexe Gesamtbild vom Karma in Betracht ziehen – und die Zeit, die es manchmal braucht, damit aus Handlungen Resultate folgen – können wir akzeptieren, dass die kategorischen Aussagen des Buddha über heilsame und unheilsame Handlungen möglicherweise stimmen.

Aus der Perspektive seines Erwachens sah der Buddha also, dass zum einzig wahren Erkennen der Handlungen und ihrer Konsequenzen eine weite Perspektive auf nachtodliche Leben gehört. Aus diesem Grund nutzte er diese Perspektive, wenn er bei anderen einen Sinn für Dringlichkeit zu wecken versuchte. So motivierte er sie, den Pfad des Heilsamen zu beschreiten. In einigen Fällen beschrieb er auch, wie heilsames und unheilsames Verhalten in künftigen Leben zu Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten führt (MN 41; AN 8.40). In anderen Fällen gehörte dazu die (nur oberflächliche) Beschreibung himmlischer Vergnügen und die (in grausamen Einzelheiten geschilderten –s. MN 129 and MN 130) Schrecken der Hölle. Manchmal ergänzte er diese Beschreibungen noch um die Beobachtung, dass die Wiedergeburt in den niederen Bereichen viel öfter vorkommt als die in den höheren Bereichen (SN 20.2). In allen Fällen sagte er, dass seine Beschreibungen und Beobachtungen nicht vom Hörensagen, sondern aus seiner eigenen direkten Erfahrung stammen.

Dennoch war ihm bewusst, dass seine Hörer und Schüler seine Aussagen über die Wirksamkeit des Verhaltens und die Wahrheit der Wiedergeburt so lange als Glauben annehmen müssen, bis sie sie durch die Praxis aus eigener Erfahrung bestätigt finden. Glauben bedeutete für ihn jedoch nicht, auf etwas zu beharren, was nicht wirklich gewusst werden kann, oder abwegige Vorstellungen zu akzeptieren. Er schloss vielmehr ein Eingeständnis von Unwissenheit über Dinge ein, über die man kein empirisches Wissen besitzt, verbunden mit der Bereitschaft, die Voraussetzungen anzunehmen, die notwendig sind, um einen Pfad zum Glück zu folgen, der höchstwahrscheinlich Resultate zu bieten scheint, (MN 27).

Deshalb hatte der Buddha niemals behauptet, sowohl die Wirksamkeit von Handlungen als auch die Wiedergeburt zu beweisen, denn er wusste, dass die Beweise für diese Lehren jenseits des Begriffsvermögens seiner Zuhörer lagen. Das Beste, was er in Bezug auf die Wirksamkeit des Handelns tun konnte, war, hervorzuheben, dass diejenigen, die die Rolle des gegenwärtigen Verhaltens bei der Gestaltung der gegenwärtigen Erfahrung leugneten (weil sie alle erlebten Erfahrungen auf ein vergangenes Verhalten, den Akt eines Schöpfergottes oder dem absoluten Zufall zurückführten (AN 3.62)), sich selbst jede Grundlage für das Lehren anderer oder für das Folgen eines Praxispfades entziehen. Mit anderen Worten, wenn die gegenwärtige Erfahrung nicht zumindest teilweise auf das gegenwärtige Verhalten zurückgeht, dann besteht keine Möglichkeit, dass ein Praxispfad zu irgendwelchen Resultaten führen könnte. Das Lehren eines Praxispfades wäre dann ein sinnloses Unterfangen. Das Argument des Buddha war kein Beweis dafür, dass heilsames und unheilsames Verhalten tatsächlich sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft Konsequenzen nach sich zieht. Er deutete einfach auf den Widerspruch hin, wenn Gegenteiliges gelehrt wird.

Nimmt man andererseits sowohl die Wirksamkeit des Handelns als auch dessen Auswirkungen auf die Wiedergeburt an, ist es wahrscheinlicher, dass man sich heilsam verhält. Anderes anzunehmen, machte es einem leichter, im Angesicht von Armut oder Tod Fehlverhalten wie Lügen, Töten oder Stehlen zu rechtfertigen. Und wenn es künftig einfach praktischer ist, zu lügen usw. als nicht, könnte man auf diese Rechtfertigungen zurückgreifen. Wenn man aber annimmt, dass das eigene Verhalten Folgen hat, und dass diese Folgen über viele Leben hinweg nachwirken, ist es einfacher, sich an die eigenen Prinzipien zu halten: nicht zu lügen, zu töten oder zu stehlen – auch unter großem Zwang. Und obwohl man nichts über den Wahrheitsgehalt dieser Annahmen wissen kann, ist es nicht möglich, eine Handlung zu planen, ohne das Prinzip indirekt aufs Spiel zu setzen.

Darum ist das lapidare „Ich weiß nicht“ keine adäquate Antwort auf die Fragen von Wiedergeburt und die Wirksamkeit unseres Karma. Die dahinter stehende Haltung mag in gewissem Sinne ehrlich sein, aber es ist unehrlich zu glauben, dass darüber nicht mehr gesagt werden kann. Denn hier wird die Tatsache ignoriert, dass hinsichtlich der eigenen Handlungen und deren möglichen Resultate jedes Mal Vermutungen angestellt werden müssten.

Es ist wie mit dem Besitz von Geld: Egal, wie man es verwendet – es ausgibt, investiert oder einfach nur aufbewahrt –, indirekt wird immer abgewogen, wie jetzt und in der Zukunft der beste Nutzen daraus gewonnen werden kann. Die eigene Investment-Strategie kann nicht bei dem „Ich-Weiß-Nicht“ aufhören. Wenn man überhaupt über Weisheit verfügt, dann muss man künftige Möglichkeiten in Betracht ziehen und seine Chancen dort suchen, wo die eigenen Ressourcen am sichersten und produktivsten eingesetzt werden können.

So ist es mit all unseren Handlungen. In Anbetracht der Tatsache, dass wir bei der Suche nach Glück ständig auf die eine oder andere Art abwägen müssen, sagte der Buddha, dass das Wagnis, anzunehmen, dass Handlungen Folgen haben, die sich nicht nur auf dieses Leben auswirken, sondern auch auf künftige Leben, sicherer ist, als das Gegenteil anzunehmen.

In MN 60 hebt der Buddha z. B. hervor, dass man von einem, welcher der von Ajita Kesakambalin vertretenen Ansicht des Vernichtungsglaubens anhängt, nicht erwartet, dass er oder sie ein unheilsames Verhalten vermeidet, wohingegen man von denjenigen, die das Gegenteil vertreten – nämlich die weltliche Rechte Ansicht – erwarten würde, dass sie ein unheilsames Verhalten vermeiden. Dann sagte er über die erste Gruppe:

„Ein aufmerksamer Mensch erwägt hierzu Folgendes: ‚Wenn es keine nächste Welt gibt, dann kann dieser Ehrwürdige – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – sich diesbezüglich in Sicherheit wissen. Wenn es aber die nächste Welt gibt, wird dieser Ehrwürdige – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – in einem von Entbehrung geprägten Daseinsbereich, an einem unglücklichen Bestimmungsort, in einer niederen Welt, in der Hölle wiedererscheinen. Selbst wenn wir nicht von der nächsten Welt sprechen würden, und wenn es die wahre Aussage jener ehrwürdigen Asketen und Brahmanen [die die Existenz einer nächsten Welt bestätigen] nicht gäbe, wird diese Person im Hierund-Jetzt von weisen Menschen wegen ihrer schlechten Gewohnheiten und falschen Ansicht kritisiert: Als einer, der die Lehre eines Nicht-Daseins vertritt.‘ Wenn es da wirklich eine nächste Welt gibt, dann ist diesem Ehrwürdigen in doppelter Hinsicht kein guter Wurf gelungen: Zum einen wird er im Hier-und-Jetzt von weisen Menschen kritisiert und zum anderen wird er – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – in einem von Entbehrung geprägten Daseinsbereich, an einem unglücklichen Bestimmungsort, in einer niederen Welt, in der Hölle wiedererscheinen. So erfasst diese unbestreitbare Lehre, die von ihm nur unzureichend verstanden und unzureichend übernommen wurde, (nur) eine Seite und ignoriert die Möglichkeit des Heilsamen.“

MN 60

Bezüglich der zweiten Gruppe – diejenigen, die sich an die weltliche Rechte Ansicht halten und sich im Einklang mit ihr verhalten – sagte der Buddha:

„Darüber erwägt eine aufmerksame Person Folgendes: ‚Wenn es eine nächste Welt gibt, dann wird dieser Ehrwürdige – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – an einem glücklichen Bestimmungsort, in einer himmlischen Welt wiedererscheinen. Selbst, wenn wir von der nächsten Welt nicht sprechen würden und wenn es die wahre Aussage jener ehrwürdigen Asketen und Brahmanen nicht gäbe, dann würde dieser Ehrwürdige dennoch im Hier-und-Jetzt von weisen Menschen als ein Mensch mit guten Gepflogenheiten und Rechter Ansicht gelobt: Als einer, der sich an eine Daseinslehre hält.‘ Wenn es da wirklich eine nächste Welt gibt, dann ist diesem Ehrwürdigen in doppelter Hinsicht ein guter Wurf gelungen: Zum einen wird er im Hier-und-Jetzt von weisen Menschen gelobt und zum anderen wird er – beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode – an einem glücklichen Bestimmungsort, in einer himmlischen Welt wiedererscheinen. So umfasst diese unwiderlegbare Lehre, die von ihm auf diese Weise wohl aufgefasst und übernommen wurde, beide Seiten und schließt die Möglichkeit des Unheilsamen aus.“

MN 60

Diese Argumente stellen keinen Beweis für die Wirksamkeit von Handlungen oder die Wahrheit der Wiedergeburt dar, doch zeigen sie, dass es sicherer, vernünftiger und achtbarer ist, die Wahrheit dieser Lehren zu akzeptieren als sie abzulehnen. Mehr wollte der Buddha mit diesen Argumenten nicht verdeutlichen. Er überließ es seinen Hörern anzuerkennen, dass das Verhalten wie eine Investition ist, die – wie alle Investitionen – mit Risiken verbunden ist. Und er überließ es ihnen zu entscheiden, wie sie die mit dem Handeln verbundenen Risiken und Potentiale jetzt und in Zukunft einschätzen wollten. Er bat seine Hörer nicht, sich einem blinden Glauben an die Möglichkeit, dass ihr Verhalten zu einer Wiedergeburt führen könnte, zu unterwerfen, aber er war auch nicht daran interessiert, jene zu unterweisen, die diese Möglichkeit kategorisch ablehnten. Wie wir bereits angemerkt haben, erkannte er, dass Wachsamkeit allen heilsamen Eigenschaften zugrunde liegt. Wenn ein Zuhörer nicht davon überzeugt werden konnte, bezüglich der im Verhalten steckenden Risiken ein angemessenes Maß an Wachsamkeit zu entwickeln, dann wäre jegliche weitere Unterweisung Zeitverschwendung.

4. Die Edle Wahrheit von der Wiedergeburt   

Um seine Zuhörer von der weltlichen Rechten Ansicht zur transzendenten Rechten Ansicht zu bewegen, nutzte der Buddha die Wiedergeburtslehre nicht nur um sie zur Wachsamkeit zu anzuregen, sondern auch, um ihn ihnen einen Sinn für Saṃvega, ein Gefühl von Entsetzen und Angst angesichts der Vorstellung, die Freiheit von Wiedergeburt nicht erlangen zu können, zu wecken.

„Lange musstet Ihr (immer wieder) den Tod einer Mutter erfahren. Die Menge an Tränen, die Ihr über den Tod einer Mutter während dieser langen Zeit des Weiterwanderns vergossen habt, indem Ihr, weinend und trauernd erleben musstet, mit Unangenehmen verbunden und vom Angenehmen getrennt zu sein, ist größer als das Wasser der vier großen Ozeane.“

„Lange musstet Ihr (immer wieder) den Tod eines Vaters… den Tod eines Bruders … den Tod einer Schwester … den Tod eines Sohnes … den Tod einer Tochter … musstet Ihr Verluste an Verwandten erfahren … musstet Ihr den Verlust an Reichtum und Wohlstand erfahren … musstet Ihr Verluste durch Krankheit erfahren. Die Menge an Tränen, die Ihr über den Verlust durch Krankheit während dieser langen Zeit des Weiterwanderns vergossen habt, indem Ihr, weinend und trauernd erleben musstet, mit Unangenehmen verbunden und vom Angenehmen getrennt zu sein, ist größer als das Wasser der vier großen Ozeane.“

„Und warum? Das Weiterwandern ist ohne einen erkennbaren An-fang. Obwohl ein Anfangspunkt nicht erkennbar ist, irren und wandern die Wesen, von Unwissenheit behindert und von Verlangen gefesselt, weiter. Lange Zeit musstet Ihr somit Leiden erfahren, Schmerz erfahren, Verluste erleiden, sind die Friedhöfe angewachsen – lange genug, um sich von all den erschaffenen Dingen zu lösen, genug, um sich davon zu befreien.“

SN 15.3

Die Beziehung zwischen der Wachsamkeit und saµvega verläuft parallel zu der Beziehung, die zwischen der zweiten und dritten Erkenntnis besteht, zu welcher der Buddha in der Nacht seines Erwachens gelangte. Indem er erkannte, wie die Wiedergeburt von den eigenen Ansichten und Handlungen abhing, wurde ihm die Notwendigkeit für die Wachsamkeit hinsichtlich der eigenen Gedanken, Worte und Taten bewusst. Aufgrund der prekären Komplexität und der Sinnlosigkeit des gesamten Prozesses der sich wiederholenden Tode und Wiedergeburten entwickelte er ein Gefühl für saµvega, das ihn zur Suche nach einem Ausweg inspirierte.

Der Weg, den er wählte – und der zu Resultaten führte – bestand darin, das durch die ersten beiden Erkenntnisse über die Wiedergeburt Gelernte auf das geistige Verhalten im gegenwärtigen Augenblick anzuwenden und sowohl auf dessen unmittelbare wie auch auf dessen künftige Folgen zu übertragen. Auf diese Weise gelangte er zu den Vier Edlen Wahrheiten als die Form der Rechten Ansicht, die zur vollkommenen Befreiung und zum Ende der Wiedergeburt führen wird.

Die Verbindung zwischen Wiedergeburt und der Ersten Edlen Wahrheit spiegelt sich in der Tatsache wider, dass diese Wahrheit die Geburt unter dem Aspekt des Leidens auflistet, welches durch die Vierte Edle Wahrheit beendet wird. Tatsächlich steht Geburt am Anfang der Liste:

„Nun dies, Ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidvoll, Altern ist leidvoll, Tod ist leidvoll; Kummer, Klagen, Schmerz, Sorgen und Verzweiflung sind leidvoll; das Verbundensein mit Ungeliebtem ist leidvoll, das Getrenntsein von Geliebtem ist leidvoll, etwas Gewünschtes nicht zu bekommen, ist leidvoll. Kurz, die fünf Gruppen des Anhaftens sind leidvoll.“

SN 56.11

Die Verbindung zwischen der Wiedergeburt und der Zweiten Edlen Wahrheit spiegelt sich in der Tatsache wider, dass diese Wahrheit die Ursache des Leidens als jegliche Form des Verlangens oder Anhaftens definiert, die zu „erneutem Werden“ führt und Bedingung für eine weitere Geburt ist:

„Und dies, Ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Entstehen des Leidens: Das Verlangen, das zu erneutem Werden führt – begleitet von Gier, das mal hier, mal dort Gefallen findet – nämlich das Verlangen nach Sinnesbefriedigung, das Verlangen nach Werden, das Verlangen nach Nicht-Werden.“

SN 56.11

Kritiker, welche die Vorstellung ablehnen, dass der Buddha in diesen zwei Edlen Wahrheiten von der Wiedergeburt einer Person spricht, führen gewöhnlich eines von zwei Argumenten an: Entweder ist mit dem Verweis auf „Geburt“ nicht die Wiedergeburt gemeint, oder hier wird mit Wiedergeburt die mikroskopische Ebene momentaner Geist-Momente verstanden und nicht die makroskopische Ebene der Wesen oder Menschen im Laufe der Zeit. Keine Interpretation wird dem gerecht, was der Buddha darüber sagte.

Die zur ersten Gruppe gehörenden Autoren betonen, dass der Buddha in der Ersten Edlen Wahrheit das Wort „Geburt“ und nicht „Wiedergeburt“ verwendet hat, und schließen daraus, dass in diesem Fall nicht unbedingt eine Wiedergeburt gemeint sein muss. Diese Schlussfolgerung lässt jedoch die Beziehung der Ersten Edlen Wahrheit zu den anderen Wahrheiten außer Acht. All die in der Ersten Wahrheit aufgeführten Leidensformen werden durch die Zweite Wahrheit verursacht und durch die Vierte Wahrheit zum Verlöschen gebracht. Wäre die Geburt ein einmaliger Vorgang, dann wäre es für bereits geborene Menschen sinnlos, nach den Ursachen für das Leidvolle der Geburt zu suchen, und sie hätten keine Möglichkeit, diese Ursachen durch die vierte Wahrheit zum Verlöschen zu bringen.

Dies wird besonders dann deutlich, wenn wir uns anschauen, wie der Buddha seiner eigenen Aussage zufolge die Ursachen des Leidens erforscht hatte, nachdem er in seinen ersten beiden Erkenntnissen die Leiden gesehen hatte, welche durch die wiederholte Geburt verursacht werden. Er untersuchte die möglichen Ursachen der Geburt und spürte sie tief im Geist auf:

„Ihr Mönche, vor meinem Erwachen, als ich noch ein unerwachter Bodhisatta war, wurde mir bewusst: ‚Wie tief ist doch diese Welt in Schwierigkeiten verstrickt! Sie wird geboren, sie altert, sie stirbt, sie verfällt und erscheint erneut, aber sie erkennt nicht das Entkommen aus diesem Leiden, aus diesem Altern und Tod. Wann nur wird sie das Entkommen aus diesem Leiden, aus diesem Altern und Tod erkennen?‘“

„Dann kam mir der Gedanke: ‚Wodurch existieren Altern-und-Tod? Wie kommen Altern und Tod zustande?‘ Durch weises Ergründen gelangte ich zum Durchbruch der Erkenntnis: ‚Altern und Tod existieren, wenn Geburt existiert. Mit der Geburt als erforderliche Bedingung entstehen Altern und Tod.‘“

„Dann kam mir der Gedanke: ‚Wodurch existiert Geburt? Wie kommt Geburt zustande?‘ Durch mein weises Ergründen gelangte ich zum Durchbruch der Erkenntnis: ‚Geburt existiert, wenn Werden existiert. Mit dem Werden als eine erforderliche Bedingung entsteht Geburt…‘“

„Werden existiert, wenn was existiert? …“

„Anhaften/Nahrung existieren, wenn was existiert? …“

„Verlangen existiert, wenn was existiert? ...“

„Kontakt existiert, wenn was existiert? ...“

„Die sechs Sinnesgebiete existieren, wenn was existiert? ...“

„Name-und-Form existieren, wenn was existiert? ...“

„Was ist hier die erforderliche Bedingung für das Entstehen von Name-und-Form? Durch weises Ergründen gelangte ich zum Durchbruch der Erkenntnis: ‚ Name-und-Form existieren, wenn Bewusstsein existiert. Mit Bewusstsein als erforderliche Bedingung entstehen Nameund-Form.‘ Dann kam mir der Gedanke: ‚Bewusstsein existiert, wenn was existiert? Was ist die erforderliche Bedingung für das Entstehen von Bewusstsein?‘ Durch weises Ergründen gelangte ich zum Durchbruch der Erkenntnis: ‚Bewusstsein existiert, wenn Name-und-Form existieren. Mit Name-und-Form als erforderliche Bedingung entsteht Bewusstsein.‘“

„Dann kam mir der Gedanke: ‚Dieses Bewusstsein kehrt zu Nameund-Form zurück, es geht nicht darüber hinaus. Bis zu diesem Ausmaß gibt es Geburt, Altern, Tod, Zerfall und Wiedererscheinen: nämlich mit Name-und-Form als erforderlicher Bedingung entsteht Bewusstsein und mit Bewusstsein als erforderliche Bedingung entstehen Name-und-Form. Mit Name-und-Form als erforderlicher Bedingung entstehen die sechs Sinnesgebiete… So kommt der Ursprung der ganzen Leidensmasse zustande. Der Ursprung, der Ursprung.‘ So erlangte ich Einsicht, Wissensklarheit, Weisheit, Wissen und Licht in Bezug auf Dinge, die nie zuvor gehört wurden.“

SN 12.65

Hätte der Buddha angenommen, dass die Geburt ein einmaliger Vorgang ist, dann hätte er die Ursachen von Geburt durch Werden, Anhaften … bis hin zu Name-und-Form nicht erforscht. Er hätte seine Analyse der Leidensursachen bei seiner Verwirklichung beendet: ‚Altern und Tod existieren, wenn Geburt existiert. Mit der Geburt als erforderlicher Bedingung entstehen Altern und Tod.‘ Er hätte dann seine Analyse der Leidensentstehung auf das begrenzt, was nach der Geburt folgt. Nur, weil er sah, dass Geburt ein sich wiederholender Prozess ist, ging er den Ursachen von Geburt auf den Grund und spürte sie über die Faktoren auf, die er später in seiner Beschreibung des Bedingten Entstehens lehrte.

Genauer gesagt hätte der Buddha ohne die Annahme der Wiedergeburt die zentralen Grundsätze seiner Lehre (die Vier Edlen Wahrheiten und das Bedingte Entstehen) nie entdeckt und gelehrt. Seine Analyse vom Leiden und dessen Ursachen wäre nicht so umfangreich geworden. Und – wie wir sehen werden – der Buddha entdeckte, dass die zum Leiden führenden Prozesse selbsterhaltend sind, d.h., dass sie sich so lange unendlich wiederholen, bis sie bewusst zum Versiegen gebracht werden. So wird nicht nur der Geburt, sondern jedem Faktor innerhalb des Bedingten Entstehens indirekt das Präfix „wieder-“ vorangestellt: von der „Wieder-Unwissenheit“ bis zum „Wieder-Tod“.

Das Argument, dass es sich bei der in der Ersten Edlen Wahrheit erwähnten „Geburt“ um ein sich wiederholender Prozess handele, der sich nur auf der Mikroskala des augenblicklichen Entstehens von Geisteszuständen abspielt, gewinnt durch den Umstand, dass der Buddha durch das Untersuchen der im gegenwärtigen Augenblick stattfindenden geistigen Ereignisse die Vier Edlen Wahrheiten und die Faktoren des Bedingten Entstehens entdeckt hat, an Glaubwürdigkeit. Allerdings werden dabei zwei wichtige Punkte außer Acht gelassen.

Erstens: Als der Buddha Geburt, Altern und Tod im Zusammenhang mit diesen Lehren erklärte, bezog er sich auf die Geburt im makroskopischen Bereich, d.h. auf die Geburt, auf das Altern und auf den Tod eines Menschen:

„Nun, welches Altern und Tod ist gemeint? Es ist das Altern, die Altersschwäche, die Zerbrechlichkeit, das Ergrauen, Entstehen von Falten, das Nachlassen der Lebenskraft, die Abschwächung der Eigenschaften der verschiedenen Wesen in dieser oder jener Gruppe von Wesen, welches Altern genannt wird. Das Ableben, Verscheiden, die Auflösung, das Verschwinden, das Sterben, der Tod, das Ablaufen der Zeit, der Zerfall der Daseinsgruppen, der Zerfall des Körpers, die Unterbrechung der Lebensfähigkeit der verschiedenen Wesen in dieser oder jener Gruppe von Wesen – diese werden Tod genannt.“

„Und welche Geburt ist gemeint? Es ist das Geborenwerden, die Empfängnis, das In-Erscheinung-Treten, das Auftreten der Daseinsgruppen und das Ergreifen der Sinnesbereiche der verschiedenen Wesen in diesem oder jenem Bereich der Wesen, welches Geburt genannt wird.“

SN 12.2

Zweitens: Darauf zu bestehen, die Vier Edlen Wahrheiten und die Faktoren des Bedingten Entstehens ließen sich nur auf den einen oder anderen Bereich eingrenzen, würde ein wesentliches Merkmal dieser Lehren auslassen. Wir erinnern uns, dass der Buddha zu seiner dritten Erkenntnis gekommen war, weil er das durch die ersten beiden Erkenntnisse Gewonnene auf den mikroskopischen Bereich angewendet hatte. Daraus lernte er, dass der Grad des Bereiches ein relativer ist: Der Prozess ist die Konstante. Wenn wir eine Analogie aus der modernen Physik heranziehen, dann gleicht es Einsteins Gedanken, dass die Dimensionen von Raum und Zeit keine Konstanten darstellen; die Konstante ist die Lichtgeschwindigkeit.

Dass der Buddha durch die Entdeckung eines Prozesses, der sich über viele Bereiche konstant hält, die Befreiung erlangte, spiegelt sich in seiner Lehrmethode wider. Darin wechselt er während seiner Reden oft zwischen den Maßstäben hin und her, ohne sich auf den einen oder den anderen Maßstab festlegen zu lassen. Manchmal sprach er über „Wesen“ im gewöhnlichen Sinn des Wortes und manchmal im Sinn von Anhaftungen (SN 23.2), d.h. im Sinne von geistigen Prozessen. Dies wird insbesondere beim Bedingten Entstehen deutlich. Die Lehre wird immer als ein Prozess dargestellt, der keine feste Ebene hat, auf der sich diese Prozesse abspielen – also entweder auf den Maßstab in der Welt oder innerhalb des Individuums bezogen wäre.

Auf diese Weise ist es wie bei einer Fotografie von Erosionsmustern. Ohne ein äußeres Bezugsobjekt wie z. B. ein Baum oder ein Insekt, das den Maßstab erkennen lässt, ist es schwierig zu erfassen, ob das Blickfeld der Fotografie zwei Kilometer oder zwei Zentimeter umfasst, ob die Erosion sich über ein großes Bergplateau erstreckt oder nur einen kleinen Sandflecken am Straßenrand darstellt, und ob die erodierten Abschnitte in der Fotografie Felsbrocken oder Sandkörner darstellen. Die Fotografie kann so oder so untersucht werden, um die komplexen Entstehungsmuster zu verstehen, die der Erosion zugrunde liegen. Indem wir sie auf multiplen Ebenen studieren und uns nicht auf eine Ebene beschränken, können wir darüber hinaus mehr über die Prozesse der Erosion lernen.

Und so ist es ein Fehler, die Lehren des Buddha über Geburt/Wiedergeburt nur auf einen Maßstab zu begrenzen. Wenn man sie nur auf den mikroskopischen Maßstab eingrenzt, dann würde man das Potential gegenwärtiger Geisteszustände, längerfristig Leiden zu verursachen, sowie die Radikalität des zur Beendigung des Leidens notwendigen Heilmittels unterschätzen. Seine Lehren nur auf den makroskopischen Maßstab einzugrenzen, macht es unmöglich, in der Gegenwart direkt zu beobachten, wie Geburt und die damit verbundenen Leiden zustande kommen, und wie sie beendet werden können. Um so viel wie möglich aus diesen Lehren zu gewinnen, ist es das Beste, zusammen mit den eigenen metaphysischen Theorien jedes Beharren, sich auf den einen oder anderen Maßstab festzulegen, fallen zu lassen. Stattdessen ist es besser, die Prozesse als Prozesse zu betrachten – natürlich mehrere Ebenen umfassend –, und diese Methode als Teil der Strategie zur Leidensbeendigung anzuwenden.

5. Ein angemessener Rahmen   

Zur Vorgehensweise des Buddha, sich bei seiner Darstellung des Wiedergeburtsprozesses nicht auf Maßstäbe festlegen zu lassen, gehörte auch, bewusst Themen nicht anzusprechen, die seine Zeitgenossen bei der Diskussion um die Wiedergeburt angeregt hätte. Dazu gehört die metaphysische Frage, was eine Person ist und was nach dem Tode wiedergeboren wird bzw. nicht wiedergeboren wird.

Mit anderen Worten: Er lehnte es ab zu erklären, ob der Wiedergeburtserfahrung irgendein „Etwas“ zugrunde liegt. Er sprach lediglich darüber, wie diese Erfahrung stattfindet und was getan werden kann, um sie zu beenden.

Diese Vorgehensweise wird in der modernen Philosophie Phänomenologie genannt. Man spricht über das Phänomen der Erfahrung nur in Bezug auf direkte Erfahrung, ohne sich auf irgendeine zugrunde liegende Realität zu beziehen, die vielleicht hinter dieser Erfahrung stehen könnte. So war der Buddha ein radikaler Phänomenologe, weil er die Erfahrung in ihren eigenen Begriffen beschrieb. Und er war insofern ein Pragmatiker, weil er diese Herangehensweise annahm und sah, dass sie bei der Beendigung des Leidens funktionierte.

Dem Kanon zufolge waren die Angehörigen anderer Schulen – ja sogar einige unter seinen eigenen Mönchen – über diesen Aspekt in der Herangehensweise des Buddha frustriert (MN 63; AN 10.93). Ihrer Meinung nach drehte sich die ganze Frage der Wiedergeburt darum, „was“ wiedergeboren bzw. nicht wiedergeboren wird. Entweder war die Lebenskraft mit dem Körper identisch, wodurch die Möglichkeit der Wiedergeburt nach dem Tod des Körpers ausgeschlossen wird, oder es gab eine vom Körper getrennte Seele oder Lebenskraft, die entweder mit dem Tod des Körpers starb oder den Tod überlebte. Doch wenn die Zeitgenossen des Buddha ihn drängten, bezüglich dieser und anderer damit im Zusammenhang stehenden Fragen einen Standpunkt einzunehmen, pflegte er sie beiseite zu schieben.

Dann sagte der Erhabene: „Mit Unwissenheit als erforderliche Bedingung entstehen Gestaltungen … Mit dem Werden als erforderliche Bedingung entsteht Geburt.“ 

Nach diesen Worten sagte ein bestimmter Mönch zum Erhabenen: „Ehrwürdiger, welche Geburt, und wessen Geburt ist gemeint [oder: die Geburt von was]?“ 

„Diese Frage ist nicht angemessen,“ sagte der Buddha. „Würde da jemand fragen: ‚Welche Geburt ist es und wessen Geburt ist es?‘ und jemand würde antworten: ‚Geburt ist eines und bei der Geburt handelt es sich um die Geburt von etwas oder von jemand‘, so hätten beide dieselbe Bedeutung, obwohl unterschiedliche Worte verwendet werden. Hätte da jemand die Ansicht, dass die Seele und der Körper ein und dasselbe sind, dann würde das heilige Leben nicht richtig geführt. Und hätte da jemand die Ansicht, dass die Seele eines ist und der Körper etwas anderes, dann würde das heilige Leben ebenso wenig richtig geführt. Indem er diese beiden Extreme vermeidet, lehrt der Tathāgata den Dhamma über die Mitte: Mit Werden als erforderliche Bedingung entsteht Geburt.“

SN 12.35

„Ihr Mönche, für die Erhaltung der ins Dasein getretenen Wesen, oder derjenigen, die auf der Suche nach einem Wiedergeburtsort sind, gibt diese vier Arten der Nahrung. Welche vier? Grobe oder feine physische Nahrung; Kontakt als zweite; geistige Absicht als dritte und Bewusstsein als vierte. Dies sind die vier Arten der Nahrung für die Erhaltung der ins Dasein getretenen Wesen und derjenigen, die auf der Suche nach einem Wiedergeburtsort sind.“

Nach diesen Worten sagte der Ehrwürdige Moóiya Phagguna zum Erhabenen: „Herr, wer ernährt sich von der Bewusstseins-Nahrung?“

„Diese Frage ist nicht angemessen“, sagte der Erhabene. „Ich sage nicht ‚ernährt sich‘. Würde ich sagen ‚ernährt sich‘, dann wäre die Frage: ‚Wer ernährt sich von der Bewusstseins-Nahrung?‘ eine angemessene Frage.“ Dies sage ich aber nicht. Die angemessene Frage wäre: ‚Bewusstseins-Nahrung für was?‘ Und die angemessene Antwort hierzu ist: ‚Die Bewusstseins-Nahrung verursacht das künftige Ins-Dasein-Treten. Wenn dies ins Dasein getreten ist und existiert, dann gibt es [die Erfahrung der] sechs Sinnesgrundlagen. Mit den sechs Sinnesgrundlagen als erforderliche Bedingung entsteht Kontakt.‘“

SN 12.12

Die Tendenz, ein „Ding“ oder „kein Ding“ in die Prozesse des Bedingten Entstehens hineinzudeuten, lebt auch heute noch in uns. Vie-le Menschen glauben, dass der Buddha das Nichtvorhandensein eines Selbst lehrte – was bedeutet, dass es kein Ding gibt, dass hinter dem Prozess des Bedingten Entstehens steht und nichts wiedergeboren wird. Viele andere glauben, dass er ein wahres Selbst lehrte, das sich hinter unserem falschen individuellen Selbst verbirgt und so diesem Prozess zugrunde liegt. Beide Annahmen sind jedoch falsch. Tatsächlich hat es der Buddha abgelehnt, eine Aussage darüber zu treffen, ob ein Selbst existiert oder nicht. Die einzige Aufzeichnung, in der der Buddha unverhohlen gefragt wurde, ob ein Selbst existiert oder nicht, findet sich in der Gruppierten Sammlung und in dem Text lehnte er es ab zu antworten (SN 44.10).

Er wusste, dass diese Art von Fragen den zum Ende des Leidens führenden Pfad nur behindern. Wie er in der Lehrrede MN 2 sagte, ist die Beschäftigung mit solchen Fragen wie „Bin ich? Bin ich nicht? Was bin ich? Was war ich in der Vergangenheit? Was werde ich in Zukunft sein?“ eine Form von falsch gelenkter Aufmerksamkeit: Eine Art von Aufmerksamkeit, die die Vier Edlen Wahrheiten ignoriert und zu weiterem Leiden führt. Wenn also eine Weltanschauung eine Erklärung eines „Was“ hinter der Wiedergeburt verlangt – wie wir es nicht nur in den Weltanschauungen des alten Indiens finden, sondern auch in vielen modernen Weltanschauungen –, dann handelt es sich einfach um eine Form von falsch gelenkter Aufmerksamkeit, die das Leiden aufrechterhält. Soll das Leiden beendet werden, dann müssen die metaphysischen Ansprüche der eigenen Weltanschauung beiseitegelegt werden. 

Der Buddha hielt es für angemessener und nützlicher, sich stattdessen darauf zu konzentrieren, wie der Prozess der Geburt ständig von Faktoren erzeugt wird, die dem Gewahrsein das ganze Leben hindurch unmittelbar präsent sind, und die durch Faktoren im gegenwärtigen Augenblick direkt erfahren werden können. Weil sich diese Faktoren noch hinreichend im Bereich der eigenen Kontrolle befinden, können sie auf das Ende der Wiedergeburt gelenkt werden.

Einen Prozess als Prozess zu begreifen – insbesondere als einen Prozess im Sinne des Bedingten Entstehens – kann durchaus zum Ende des Leidens beitragen. Diese Herangehensweise leitet uns dabei an, wie wir die entsprechenden Aufgaben der Vier Edlen Wahrheiten auf den Prozess der Geburt anwenden. Und das heißt: Leiden zu begreifen, seine Ursachen zu beseitigen, sein Verlöschen zu verwirklichen und den Pfad zum Verlöschen des Leidens zu entwickeln. Hat man diese Aufgaben vollständig erfüllt, dann können sie die Geburt durch das Überwinden ihrer Ursachen zum Ende bringen und so das Tor zum absoluten Glück öffnen, welches dann erscheint, wenn der Geist nicht länger im Prozess der Geburt verfangen ist.

Der Buddha verwendete verschiedene Erklärungsmodelle, um den Prozess des Bedingten Entstehens zu erläutern, und jedes dieser Erklärungsmodelle listet eine Reihe voneinander abhängiger Faktoren auf. Sein bekanntestes Standardmodell enthält diese Faktoren:

Unwissenheit (bezüglich der Anwendung der Vier Edlen Wahrheiten),

Gestaltungen (Willensmanifestationen, die die Erfahrung von Körper, Sprache und Geist formen),

Bewusstsein (bezogen auf die sechs Sinnesgebiete, wobei der Geist als sechstes gezählt wird), 

Name-und-Form (geistige Phänomene [Absichten, Aufmerksamkeit, Gefühl, Wahrnehmung und Kontakt] und physische Phänomene [der Körper, wie er von innen als Energie, Wärme, Flüssiges und Festes erlebt wird]),

die sechs Sinnesgebiete (mit dem Geist als sechstes),

Kontakt (mit den sechs Sinnesgebieten), 

Gefühl (das, aus diesem Kontakt hervorgehend, als angenehm, schmerzhaft oder weder-angenehm-noch-schmerzhaft empfunden wird),

Verlangen (nach Sinnlichkeit, nach Werden und nach Nicht-Werden), 

Anhaften (an Gewohnheiten, Rituale, Ansichten und Theorien über ein Selbst),

Werden (die Annahme einer Identität in einer bestimmten Erfahrungswelt im Bereich der Sinne, der Form oder der Formlosigkeit), und 

Geburt (in diese Identität hinein)

– gefolgt von dem Leiden des Alterns, der Krankheit und des Todes. 

Diese Liste ist sehr komplex. Innerhalb dieser Reihe treten bestimmte Faktoren an verschiedenen Punkten auf. Zum Beispiel ist der Faktor der Unwissenheit mit dem Unterfaktor der falsch gerichteten Aufmerksamkeit identisch, der zu Name-und-Form gezählt wird. Die Liste enthält auch viele Rückkopplungen. Hierbei handelt es sich um Reihen, bei denen eine Wirkung zurückkehrt und den nächsten Fall ihrer Ursache beeinflusst. Wie wir sehen werden, sind es diese Rückkopplungen innerhalb dieses Prozesses, die für dessen Aufrechterhaltung verantwortlich sind und ihm das Potential verleihen, sich unendlich fortzusetzen.

Zunächst konzentrieren wir uns auf die auffälligste Eigenschaft des Bedingten Entstehens: Das Fehlen eines äußeren Kontextes. Hier wird jeder Bezug auf ein Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Selbst oder einer Welt im Zusammenhang mit den beschriebenen Prozessen vermieden.

Stattdessen liefert es den Kontext, um Phänomene wie ein „Selbst“ und „Welten“ zu begreifen. Anders ausgedrückt, es zeigt, wie solche von metaphysischen Kontexten getragenen Vorstellungen erzeugt und festgehalten werden, und welche Folgen dies hat. Es zeigt besonders eingehend, wie das Erzeugen und Festhalten metaphysischer Theorien über die Existenz oder Nichtexistenz des Selbst oder der Welt tatsächlich zu Geburt und Leiden führt. Dies bedeutet, dass das Bedingte Entstehen nicht in einem metaphysischen Kontext existiert, sondern den phänomenologischen Kontext für die Erklärung bietet, warum metaphysische Kontexte besser aufgegeben werden sollten.

Die ausschlaggebenden Faktoren, welche über metaphysische Theorien zur Wiedergeburt führen, sind „Name“, „Kontakt“, „Anhaften“ und „Werden“.

Der sekundäre Faktor der Aufmerksamkeit gehört zum Faktor „Name“, und – wie wir gesehen haben – beschreibt MN 2 diesen als den Akt des Wählens: Es geht darum, welche Fragen gestellt werden sollten. Wird die Aufmerksamkeit in falscher Weise auf Fragen gerichtet, die im Zusammenhang mit der Metaphysik der Identität stehen – „Wer bin ich?“, „Existiere ich?“ –, verstrickt man sich dadurch in ein „Dickicht von Ansichten, einem Gewirr von Ansichten“, das einen in Leiden und Unzufriedenheit gefangen hält. Der Buddha zeigt außerdem, dass die Ansichten, die sich um das Was und Woher der Welt drehen, aus dem Kontakt mit den sechs Sinnen hervorgehen (DN 1; SN 35.82). Diese Ansichten über ein Selbst und die Welt werden dann zu Objekten der Anhaftung, die wiederum zum Werden führen – zum Ergreifen einer Identität innerhalb einer bestimmten Erfahrungswelt, die sich über das Verlangen definiert, das diesem Anhaften zugrunde liegt. Werden ist wiederum die Bedingung für die sich wiederholende Geburt.

Das Gegenmittel zu diesem Prozess besteht darin, die Aufmerksamkeit in rechter Weise auf das Erkennen der Vier Edlen Wahrheiten, so wie sie erfahren werden, zu richten. Diese Art von Aufmerksamkeit macht es möglich, das Entstehen von Ansichten als einen Prozess wahrzunehmen, dessen Nachteile zu erkennen und schließlich jedes Anhaften an den Inhalt der Ansichten aufzugeben. Auf diese Weise werden die Bedingungen für eine Fortsetzung von Werden und Geburt beseitigt. Obwohl die Vier Edlen Wahrheiten auch eine Art von Ansicht sind, tragen sie – aufgrund ihrer Eigenschaft, alle Ansichten (auch sich selbst) als einen Teil dieses Prozesses zu erkennen – die Samen ihrer eigenen Transzendenz in sich

(AN 10.93).

Um aus dem Bedingten Entstehen so viel Nutzen wie möglich zu ziehen, sollten Theorien von einem Selbst und Ansichten von der Welt mehr als Erscheinung innerhalb des Kontextes des Bedingten Entstehens betrachtet werden, anstatt das Bedingte Entstehen aus der Perspektive eines Selbst oder der Welt.

Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er die Aufmerksamkeit von Dingen weglenkt, für die man nicht verantwortlich ist (z. B. metaphysische Entitäten, die der Erfahrung zugrunde liegen könnten), und stattdessen auf Ereignisse richtet, für die man verantwortlich ist: Auf Akte der Aufmerksamkeit und auf die verschiedenen Manifestationen des Willens, die unter die Faktoren „Gestaltungen“ und „Name“ fallen. Aus diesem Grund hat der Buddha viel Zeit darauf verwendet, die Beziehung zwischen dem Handeln und der Wiedergeburt zu erklären, obwohl er eine Stellungnahme zu den metaphysischen Fragen im Zusammenhang mit der Wiedergeburt immer ablehnte. Handeln und Wirken führen zur Wiedergeburt; ein heilsames Verhalten kann jedoch den Wiedergeburtsprozess beenden.

Wenn man sich diese Perspektive zu eigen macht, konzentriert man sich direkt auf Handlungen, die als Faktoren erfahren werden – als Teile einer kausalen Abfolge. Und dies erleichtert es wiederum, die durch die Vier Edlen Wahrheiten gestellten Aufgaben mit größerer Präzision zu erfüllen. Das heißt: Man erkennt leichter, welche Faktoren das Leiden verursachen (z. B. Unwissenheit) und daher aufgegeben werden sollten, indem sie durch Rechte Ansicht ersetzt werden. Die Punkte, welche unter den Faktor „Name“ fallen, wie z. B. die Aufmerksamkeit und die Absicht, können zu einem Pfad transformiert werden, der zum Ende des Leidens führt. So können sie auf diese Weise entwickelt werden, bevor auch sie aufgegeben werden. Und Faktoren, die das Leiden repräsentieren, wie z. B. Anhaften, Werden und Geburt, sollten deshalb so weit verstanden werden, bis der Punkt der Ernüchterung und Abwendung erreicht ist, der zur Verwirklichung des Leidensendes, der Erlösung, führt.

6. Nahrung für die Wiedergeburt   

Was bedeutet es, Geburt als einen Aspekt des Leidens zu „begreifen“? Und was wird dadurch erreicht, wenn die Geburt unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird?

Der Buddha hat oft das gesamte Leidensspektrum mit den Handlungen des Anhaftens und Ernährens verglichen. Dies sind Handlungen, die nicht nur für diejenigen von Natur aus leidhaft sind, die daran festhalten und sich davon ernähren, sondern auch für diejenigen, die sich aufgrund der Krankheit des Hungers (Dhp 203) weiter daran festhalten und davon ernähren müssen.

Für den Buddha haben die Begriffe Ernähren und Anhaften tatsächlich die gleiche Bedeutung. Das Pāliwort für Anhaften – upādāna – bedeutet sowohl Brennstoff oder Nahrung als auch das Gewinnen von Nahrung aus dem Brennstoff. Als er z. B. erklärte, wie ein Feuer brennt, beschrieb er, wie das Feuer sich durch Festhalten an seinem Brennstoff ernährt. Diese Metapher verwendete er auch, um zu veranschaulichen, wie die Wiedergeburt durch den Prozess des Anhaftens und Verlangens zustande kommt:

„Was aber, Meister Gotama, würdet Ihr in dem Augenblick, in dem eine Flamme vom Wind weit fortgetragen wird, als deren Anhaftung/Nahrung bezeichnen?“  

„Vaccha, wenn eine Flamme vom Wind weit fortgetragen wird, dann bezeichne ich sie als vom Wind genährt, denn in diesem Augenblick ist der Wind ihre Anhaftung/Nahrung.“  

„Und wenn nun ein Wesen seinen Körper abgelegt hat, aber noch nicht in einem anderen Körper erschienen ist – was würdet Ihr in diesem Augenblick als dessen Anhaftung/Nahrung bezeichnen?“

„Vaccha, wenn ein Wesen seinen Körper abgelegt hat, aber noch nicht in einem anderen Körper erschienen ist, dann bezeichne ich dies als vom Verlangen genährt, denn in diesem Augenblick ist das Verlangen dessen Anhaften/Nahrung.“

SN 44.9

Da der Buddha in dieser Passage von einem „Wesen“ spricht, könnte man ihm vorwerfen, dass er bei seinem Gespräch über die Geburt nun ein „Etwas“ einführt. Und dies ist nicht die einzige Stelle, wo er von einem Wesen spricht, das in diesem Zusammenhang im Begriff ist, geboren zu werden.

„Ihr Mönche, die Empfängnis des Embryos findet mit der Vereinigung dreier Dinge statt. Wenn eine Vereinigung von Mutter und Vater nicht stattfindet, die Mutter sich nicht in ihrer fruchtbaren Zeit befindet und ein gandhabba [das der Geburt zustrebende Wesen] nicht anwesend ist, dann wird die Empfängnis eines Embryos auch nicht stattfinden. Wenn überdies eine Vereinigung von Mutter und Vater stattfindet, die Mutter sich in ihrer fruchtbaren Zeit befindet, aber ein gandhabba nicht anwesend ist, dann findet die Empfängnis eines Embryos auch nicht statt. Wenn aber die Vereinigung von Mutter und Vater stattfindet, die Mutter sich in ihrer fruchtbaren Zeit befindet und ein gandhabba anwesend ist, dann findet mit der Vereinigung dieser drei Dinge die Empfängnis eines Embryos statt.“

MN 38

Auf der Ebene des Bedingten Entstehens behandelte der Buddha jedoch das Konzept eines Wesens nicht als ein „Etwas“. Seine Definition von einem „Wesen“ zeigt, dass er auch hier empfahl, es als einen Prozess zu betrachten:

Dort sitzend, sagte der Ehrwürdige Rādha zum Erhabenen: „Ehrwürdiger, es heißt: ‚Ein Wesen‘, ‚ein Wesen‘. Inwieweit wird man ‚ein Wesen‘ genannt?“  

„Jedes Verlangen, jede Leidenschaft, jede Begierde nach Form, Rādha: Wenn man an Form gefesselt ist [satta], in Form verstrickt [visatta] ist – dann, heißt es, ist man ‚ein Wesen‘ [satta].“

„Jedes Verlangen, jede Leidenschaft, jede Begierde nach Gefühl … Wahrnehmung … Gestaltungen …“

„Jedes Verlangen, jede Leidenschaft, jede Begierde nach Bewusstsein, Rādha: Wenn man an Bewusstsein gefesselt ist [satta], in Bewusstsein verstrickt [visatta] ist – dann, heißt es, ist man ‚ein Wesen‘ [satta].“

SN 23.2

So sprach sich der Buddha dafür aus, ein „Wesen“ lediglich als einen Prozess des Anhaftens, des Verlangens, der Leidenschaft und der Begierde zu betrachten. Ein Wesen kann in diesem Sinne viele Male am Tag geboren werden, sterben und wiedergeboren werden – wenn sich die Anhaftung nach einem Verlangen entwickelt, endet und dann für ein neues Verlangen wieder entsteht –, ganz zu schweigen von den vielen Malen, die sich während der Lebenszeit eines physischen Körpers ereignen. Deshalb kann der zur Wiedergeburt führende Prozess im gegenwärtigen Augenblick beobachtet und umgeleitet werden, denn die geistigen Prozesse, die sich auf der mikroskopischen Ebene von Augenblick zu Augenblick bewegen, sind, wie wir bereits erwähnt haben, mit den geistigen Prozessen, die sich auf der makroskopischen Ebene von Körper zu Körper bewegen, identisch.

Sobald er geboren ist – entweder auf der mikroskopischen oder auf der makroskopischen Ebene –, wird der Seins-Prozess von den vier Nahrungen des Bewusstseins aufrechterhalten: physische Nahrung, Sinneskontakte, Sinnesbewusstsein und die Absichten des Geistes.

„Dort, wo es Vorliebe, Gefallen für und Verlangen nach physischer Nahrung gibt, dort lässt sich das Bewusstsein nieder und wächst. Wo sich das Bewusstsein niederlässt und wächst, erscheinen Name-und-Form. Mit dem Erscheinen von Name-und-Form wachsen die Gestaltungen. Mit dem Wachsen der Gestaltungen ist das Erzeugen von neuem Werden in der Zukunft. Mit dem Erzeugen von neuem Werden in der Zukunft wird es künftige Geburten, Altern und Tod geben, zusammen mit Kummer, Leiden und Verzweiflung, sage ich …“

„[Gleiches gilt für die Nahrung des (Sinnes-)Kontakts, die Nahrung der intellektuellen Absicht und die Nahrung des (Sinnes-)Bewusstseins]“

SN 12.64

Bei der Aufrechterhaltung dieses Prozesses besteht zwischen dem Verlangen und der Nahrung eine komplexe Beziehung. Einerseits muss, wie die obige Passage zeigt, das Verlangen aktiv anwesend sein, bevor sich das Bewusstsein mit einer dieser Formen der Nahrung verbinden kann. Andererseits würde nicht einmal eine einzige dieser For-men von Nahrung existieren, wenn es kein vergangenes Verlangen gegeben hätte:

„Diese vier Arten der Nahrung haben das Verlangen als Ursache, das Verlangen als Ursprung, sind dem Verlangen entsprungen, sind vom Verlangen erzeugt.“

MN 38

Dies bedeutet, dass das Verlangen die Nahrung produziert, von der es sich dann ernährt – eine Tatsache, die es den zu einer Geburt führenden Prozessen erlaubt, sich zu wiederholen. Die Rolle des Verlangens ist hier eng mit der des Bewusstseins verbunden, das – ebenso wie das Verlangen – die Nahrung produziert, von der es sich ernährt.

Weil diese Prozesse selbsterhaltend sind, muss jeder Versuch, sie einzuordnen und kartografisch darzustellen, sehr komplex sein. Einer der Hauptkritikpunkte am Bedingten Entstehen ist, dass es überaus kompliziert ist. Dies ist jedoch so, als würde man sich über die Komplexität eines Stadtplans beschweren, in dem alle Straßen detailliert abgebildet sind. Um aber genau die Straße zu finden, die man sucht, muss man sich mit der Komplexität des Stadtplans abfinden. Sobald man also akzeptiert, dass die zum Leiden führenden Prozesse komplex sind, erkennt man, wie nützlich die vom Bedingten Entstehen bereitstellten Landkarten sind. Sie zeigen genau, wo innerhalb der Prozesse eine Veränderung vorgenommen werden kann, so dass die kausalen Muster von der Leidensentstehung zum Leidensende gelenkt werden können.

Dies kann gut an der Art und Weise gesehen werden, wie die zwei Hauptmodelle des Bedingten Entstehens das sich selbsterhaltende Muster beschreiben, durch welches das Bewusstsein die Nahrung produziert, von der es sich dann weiterhin ernähren kann. Dieses Muster wird besonders in dem Modell deutlich, welches die Ursachen der Geburt zu einer wechselseitigen Kausalität zwischen dem Bewusstsein auf der einen und Name-und-Form (die geistigen und physischen Dimensionen der Erfahrung) auf der anderen Seite zurückverfolgt.

„‘Mit dem Bewusstsein als erforderlicher Bedingung entstehen Name-und-Form.‘ So heißt es. Und so hat man es zu verstehen, wie mit Bewusstsein als erforderlicher Bedingung Name-und-Form entstehen. Wenn das Bewusstsein nicht in den Mutterbauch hinabsteigen würde, könnte dann Name-und-Form [der Geist und Körper des Fötus] im Mutterbauch Form annehmen?“

„Nein, Ehrwürdiger.“

„Wenn aber das Bewusstsein nach seinem Hinabsteigen in den Mutterbauch abgelenkt würde, würden dann Name-und-Form für diese Welt erzeugt werden?“  

„Nein, Ehrwürdiger.“

„Wenn das Bewusstsein des jungen Knaben oder Mädchens abgetrennt würde, könnten dann Name-und-Form noch reifen, wachsen und zur Entfaltung kommen?“

„Nein, Ehrwürdiger.“

„Deshalb ist dies eine Ursache, ist dies ein Grund, ist dies ein Ur-sprung, ist dies eine erforderliche Bedingung für Name-und-Form: nämlich Bewusstsein.“

DN 15

Weil das Bewusstsein beim Prozess von Geburt und Wachstum eine Rolle spielt, ist es auch von den Phänomenen abhängig, die es erhält: 

„Wenn das Bewusstsein in Name-und-Form nicht Fuß fassen könnte, ließe sich dann in Zukunft noch erkennen, wie das Entstehen von Geburt, Altern, Tod und Leiden in Gang gesetzt wird?

„Nein, Ehrwürdiger.“

„Deshalb ist dies eine Ursache, ist dies ein Grund, ist dies ein Ur-sprung, ist dies eine erforderliche Bedingung für Bewusstsein: nämlich Name-und-Form.“

DN 15

Auf diese Weise füttert das Bewusstsein direkt die Faktoren, von denen es sich dann selbst ernährt. So konzentriert sich dieses Modell der Darstellung des Bedingten Entstehens auf eine Stelle, um die Abfolge zu unterbrechen: Auf die gegenseitige Abhängigkeit von Bewusstsein und Name-und-Form.

[Der Ehrw. Sāriputta:] „Es ist, als stünden zwei Bündel aus Schilfgras aneinander gelehnt. Auf die gleiche Weise sind Name-und-Form die erforderliche Bedingung für Bewusstsein, und Bewusstsein ist die erforderliche Bedingung für Name-und-Form …“

„Würde jemand eines jener Schilfbündel wegziehen, würde das andere umfallen; würde man ein anderes Schilfbündel wegziehen, dann würde das erste umfallen. Auf die gleiche Weise kommt das Verlöschen von Name-und-Form durch das Verlöschen von Bewusstsein zustande, und mit dem Verlöschen von Bewusstsein kommt das Verlöschen von Name-und-Form zustande.“

SN 12.67

Das klassische Modell des Bedingten Entstehens beschreibt präziser, was mit dem „Wegziehen“ von Bewusstsein und Name-und-Form gemeint ist. Dieses Modell, dessen Faktoren wir im vorangegangenen Kapitel aufgelistet haben, führt die Ursachen des Leidens bis zur Unwissenheit zurück und offenbart damit ein komplexeres Bild vom Bewusstsein, das seine eigene Nahrung produziert.

Auf den ersten Blick ist das Muster eines sich selbst erhaltenen Bewusstseinsprozesses in diesem Modell weniger augenscheinlich, denn als Faktor erscheint das Bewusstsein nur ein einziges Mal. Dennoch arbeitet es bei zwei anderen Punkten des Prozesses als Unterfaktor, wobei es die Faktoren ernährt, die es aufrechterhält. Weil das Bild hier komplexer ist, zeigt es deutlicher, an welcher Stelle die Versuche, den Nahrungsprozess zu unterbrechen, angesetzt werden müssen.

Das Bewusstsein erscheint im Prozess zunächst als eigentlicher Faktor Bewusstsein. Dieser Faktor folgt auf Unwissenheit und Gestalten und dient als Bedingung für Name-und-Form. Dass der Faktor Bewusstsein unmittelbar nach Gestalten auftritt, macht deutlich, dass er durch Absichten angetrieben ist. Wie SN 22.79 feststellt, ist es das Element der Absicht, welches das Potential für das Sinnesbewusstsein in eine tatsächliche Sinnesbewusstseinserfahrung verwandelt.

„Zum Zweck der Bewusstseins-heit, gestalten die Gestaltungen das Bewusstsein zu einem gestalteten Ding.“

SN 22.79

Daher ist jeder Akt des Sinnesbewusstseins ein absichtlicher. So lange wie die Unwissenheit das Gestalten antreibt, wird man so etwas wie einen vollkommen passiven oder reinen Bewusstseinszustand nicht finden. Jeder Bewusstseinsakt ist von dem ihn formenden Element der Absicht geprägt.

Dass der Faktor des Bewusstseins vor Name-und-Form erscheint, unterstreicht, dass das Bewusstsein anwesend sein muss, damit alle restlichen Faktoren (einschließlich die unter „Name“ fallende „Absicht“) in Erscheinung treten können. Und weil sowohl Bewusstsein als auch Name-und-Form von Gestaltungen abhängen und dies wiederum von der Unwissenheit als der leidhaften Eigenschaft des Gestaltens abhängt, zeigt dieses Modell, dass ein Weg, den Bewusstseinsprozess der Ernährung zu unterbrechen, darin besteht, die Rechte Ansicht über das im Gestalten enthaltene Element der Absicht zu entwickeln, die diesem Prozess zugrunde liegt.

Das zweite Mal tritt Bewusstsein im Prozess des Bedingten Entstehens als Komponente des Faktors Kontakt bei den sechs Sinnen in Erscheinung. Seine Rolle ergibt sich hier durch seine Abhängigkeit vom Gestalten und betont die Tatsache, dass ein Sinneskontakt niemals rein passiv sein kann. Selbst der winzigste Kontakt enthält bereits ein Element absichtlichen Gestaltens, der ihn mit Unwissenheit färbt.

„Es geschieht in Abhängigkeit von einer Zweiheit, dass Bewusstsein in Erscheinung tritt. Und wie tritt Bewusstsein in Abhängigkeit von einer Zweiheit in Erscheinung? Abhängig vom Auge und von den Formen entsteht Seh-Bewusstsein. Das Auge ist unbeständig, veränderlich, anderswerdend. Formen sind unbeständig, veränderlich, anderswerdend. Somit ist diese Zweiheit sowohl beliebig als auch unbestimmt – sie ist unbeständig, veränderlich, anderswerdend.“

„Das Seh-Bewusstsein ist unbeständig, veränderlich, anderswerdend. Was auch immer die Ursache, die erforderliche Bedingung für das Entstehen des Seh-Bewusstseins ist, es ist unbeständig, veränderlich, anderswerdend. Nachdem es in Abhängigkeit von einem unbeständigen Faktor entstanden ist – wie könnte da das Seh-Bewusstsein beständig sein?“

„Die Verbindung, das Zusammentreffen, die Vereinigung dieser drei Phänomene ist Seh-Kontakt.“ [Gleiches gilt für das Hör-, Riech-, Schmeck-, Körperberührungs- und Geistbewusstsein.]

SN 35.93

Dies zeigt, dass – soll dem Bewusstseinsprozess seine Nahrung entzogen werden – man sich weniger darauf konzentrieren sollte, wie auf die Sinneskontakte reagiert wird, sondern vielmehr darauf, was wir in den Sinneskontakt einfließen lassen: nämlich die Gewohnheit des unwissenden Gestaltens, die unsere Wahrnehmung formt.

An der dritten Stelle dieser Reihenfolge spielt das Bewusstsein zusammen mit seiner Nahrung die Rolle des Zuführens und Festhaltens. Es fußt auf dem Verlangen und führt zum Werden (zu einem Gefühl der eigenen Identität in einer bestimmten Erfahrungswelt), das die Voraussetzung für eine Geburt ist (z. B. wenn nach dem Einschlafen im Geist eine Traumwelt erscheint, und man dann in diese Welt eintaucht). In diesem Fall, sagte der Buddha, spielt das Bewusstsein die Rolle eines Samens, der – wenn er vom Verlangen und der Freude gewässert wird – auf den Bereichen der Sinne, der Formen und der Formlosigkeit zum Werden erblüht.

„Karma ist das Feld, das Bewusstsein der Samen und das Verlangen die Feuchtigkeit. Das Bewusstsein der Lebewesen, die durch Unwissenheit behindert und vom Verlangen gefesselt sind, manifestiert sich in einem niederen Bereich [dem Bereich der Sinne] … in einem mittleren Bereich [dem Formenbereich] … in einem hohen Bereich [dem Bereich der Formlosigkeit]. Auf diese Weise kommt es in der Zukunft zu erneutem Werden. Auf diese Weise gibt es Werden.“

AN 3.76

„Wie die Eigenschaft des Erd-Elements, Ihr Mönche, hat man die vier Stützpunkte des Bewusstseins [die Eigenschaften von Form, Gefühl, Wahrnehmung und Gestaltungen] zu betrachten. Wie die Eigenschaft der Flüssigkeit hat man Freude und Begierde zu betrachteten. Wie die fünf Arten der pflanzlichen Vermehrung [Wurzeln, Stängel, Verbindungsglieder, Ableger und Samen] hat man das Bewusstsein samt seiner Nahrung zu betrachten.“

SN 22.54

Das Bewusstsein und dessen Nahrung hier als Samen zu betrachten, der von Verlangen, Freude und Begierde gewässert wird, hilft, die Aufmerksamkeit auf die Rolle zu lenken, die diese drei Geisteszustände bei der Produktion von Nahrung für ein sich endlos wiederholendes Leid und eine ebensolche Geburt spielt. Dies sind die Geisteszustände, die den Bewusstseinsprozess aufrechterhalten, wenn er von einem Stützpunkt zum anderen übergeht. Vielleicht ist der Buddha hier von der Nahrungs-Analogie zur Samen-Analogie übergegangen, weil die Implikationen der Nahrungs-Analogie an diesem Punkt zu brutal gewesen wären, um sie öffentlich so deutlich auszudrücken: Wir fahren fort, uns von den Nebenprodukten unserer früheren Ernährung zu ernähren. Die Samen-Analogie weist jedoch eher indirekt auf diesen Punkt hin. So wie die Samen, nachdem sie gewässert wurden, zu Pflanzen heranwachsen, die sowohl Samen produzieren, als auch nach dem Absterben als Dünger für den Boden dienen, der jene Samen ernährt, so produziert das von Karma und Verlangen genährte Bewusstsein weitere Stützen – die Daseinsgruppen von Form, Gefühl, Wahrnehmung, Gestaltungen und Bewusstsein –, von denen sich künftige Bewusstseinsakte ernähren können:

„Sollte sich das Bewusstsein, wenn es verharrt, an Form binden, auf Form (als dessen Objekt) stützen, auf der Form niederlassen, dann würde es, wenn es durch Freude gewässert wird, zu Wachstum, Entwicklung und Wucherung gelangen.“

„Sollte sich das Bewusstsein, wenn es verharrt, an Gefühl binden, auf Gefühl (als dessen Objekt) stützen, auf dem Gefühl niederlassen, dann würde es, wenn es durch Freude gewässert wird, zu Wachstum, Entwicklung und Wucherung gelangen.“ „Sollte sich das Bewusstsein, wenn es verharrt, an Wahrnehmung binden, auf Wahrnehmung (als dessen Objekt) stützen, auf Wahrnehmung niederlassen, dann würde es, wenn es durch Freude gewässert wird, zu Wachstum, Entwicklung und Wucherung gelangen.“

„Sollte sich das Bewusstsein, wenn es verharrt, an Gestaltungen binden, auf Gestaltungen (als dessen Objekt) stützen, auf Gestaltungen niederlassen, dann würde es, wenn es durch Freude gewässert wird, zu Wachstum, Entwicklung und Wucherung gelangen.“

„Würde da jemand sagen: ‚Ich werde ein Kommen, ein Gehen, ein Vergehen, ein Entstehen, ein Wachsen, eine Entwicklung oder ein Wuchern des Bewusstseins außerhalb von Form, von Gefühl, von Wahrnehmung und von Gestaltungen beschreiben, dann wäre dies unmöglich.“

SN 22.54

Das heißt, solange wie Freude und Begierde – Synonyme für Verlangen – den Bewusstseinsprozess ernähren, wird das Bewusstsein wiederum die Nahrung erzeugen, um den Prozess unendlich aufrechtzuerhalten, selbst noch, wenn die Form dieses Körpers abgelegt wurde. Aus diesem Grund wird der Geburtsprozess erst dann enden, wenn ihm das Wasser des Verlangens und des Anhaftens entzogen wird. Und die einzige Möglichkeit, dem Prozess Wasser und Nahrung zu entziehen, ist, sich von den Aktivitäten, die diesen Prozess aufrechterhalten, abzuwenden.

Dieses Modell des Bedingten Entstehens zeigt hier seinen pragmatischen Charakter. Es demonstriert nicht nur, dass die Nahrung und das Wasser für Wiedergeburt direkt erfahren werden können, sondern auch, dass diese Prozesse unmittelbar Konsequenzen von Entscheidungen sind, die im Geist getroffen werden: Es ist die auf Unwissenheit fußende vorsätzliche Aktivität des Gestaltens. So eröffnet sich aber auch die Möglichkeit, das Leiden der Wiedergeburt durch eine Entscheidung zu beenden, indem man sich entscheidet, die richtig gelenkte Aufmerksamkeit (d.h. die Rechte Ansicht bezüglich der Vier Edlen Wahrheiten) zu entwickeln. Sie bringt das Verlangen und die Unwissenheit zum Verlöschen. Anstatt immer wieder zu versuchen, die Bedingungen der Geburt zu zerstören – welche nur eine Zerstörer-Identität hervorbringen würde, die den Prozess des Werdens lediglich verlängert – entscheidet man sich mit diesem Weg, ihren Erhaltungsprozess auszuhungern und ihn von allein zu Ende gehen zu lassen.

Mit dieser Entscheidung beginnt der Pfad, die Vierte Edle Wahrheit.

7.Die Loslösung wählen  

Da die Leidenschaften gewöhnlich als genussvoll erlebt werden, ist es nicht einfach, sich für einen Pfad zu entscheiden, der zur völligen Abkehr und Loslösung führt. Es erfordert eine starke Motivation, um diesen Pfad auf sich zu nehmen und bei ihm zu bleiben. Gleichzeitig muss man sich dabei an hohe Standards halten, denn es ist allzu leicht, auf subtile Begierden hereinzufallen, die uns wieder in den Prozess des erneuten Leidens und Wiedergeborenwerdens hineinziehen. Dies ist einer der Gründe, warum die Rechte Ansicht am Anfang des Achtfachen Pfades steht. Sie dient als Motivation und als Leitlinie für alle anderen Pfadfaktoren, wie Rechte Entschlossenheit, Rechte Rede, Rechtes Verhalten, Rechter Lebenserwerb, Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit und Rechte Sammlung.

Als Bestandteil der Rechten Ansicht spielt die Wiedergeburt und das Wissen um den Einfluss des zur Wiedergeburt führenden Verhaltens eine wichtige Rolle bei der Durchführung dieser beiden Funktionen: Sie dient am Anfang als Motivation, sich für das Folgen des Pfades zu entscheiden, und hilft uns später, auf dem Praxispfad Entscheidungen zu treffen. Im vierten Kapitel wurde bereits erwähnt, wie der Buddha den Glauben an eine Wiedergeburt benutzt hatte, um den allgemeinen Wunsch zu wecken, aus dem leidhaften Daseinskreislauf zu entkommen; hier helfen die Einzelheiten der Rechten Ansicht über die Wiedergeburt vor allem, um sich während der Praxis auf diesen Wunsch zu konzentrieren.

Manche behaupten, dass der Glaube an eine Wiedergeburt zu Selbstgefälligkeit führt (du hast viele Existenzen, um den Pfad zu praktizieren – kannst dir also Zeit lassen), aber der Buddha beschreibt die Gefahren der Wiedergeburt ganz anders: Der Tod könnte in jedem Augenblick eintreten, und es gibt mehr als genug Orte des Elends, an denen man sehr leicht wiedergeboren werden könnte – Bereiche, in denen es nicht möglich ist zu praktizieren. Und selbst, wenn es gelingt, bei der nächsten Geburt einen günstigen Daseinsbereich zu erreichen, sind die Chancen, danach eine gute Wiedergeburt zu erlangen, sehr gering. So hat man mit der Meisterung des Pfades so bald wie möglich zu beginnen.

Dann sagte der Erhabene, nachdem er mit der Spitze eines Fingernagels etwas Staub aufgehoben hatte, zu den Mönchen: „Was, Ihr, Mönche, ist wohl mehr, dies bisschen Staub, dass ich hier mit der Spitze meines Fingernagels aufgehoben habe, oder die große Erde?“

„Die große Erde, Ehrwürdiger, ist weit mehr. Das bisschen Staub, das der Erhabene mit der Spitze seines Fingernagels aufgehoben hat, ist nahezu nichts. Es zählt noch nicht einmal. Es ist kein Vergleich. Dies bisschen Staub, das der Erhabene mit der Spitze seines Fingernagels aufgehoben hat, macht im Vergleich zur großen Erde noch nicht einmal einen Bruchteil aus.“

„Ebenso nun auch, Ihr Mönche, werden wenige Wesen, die als Menschen hinscheiden, auch unter den Menschen wiedergeboren. Weitaus mehr Wesen sind es aber, die als Menschen hinscheiden und in der Hölle … im Tierschoß … im Bereich der hungrigen Geister wiedergeboren werden.“ …

„Ebenso nun auch, Ihr Mönche, werden wenige Wesen, die als Menschen hinscheiden, unter den Devas wiedergeboren. Weitaus mehr Wesen sind es aber, die als Menschen hinscheiden und in der Hölle … im Tierschoß … im Bereich der hungrigen Geister wiedergeboren werden.“ …

„Ebenso nun auch, Ihr Mönche, werden wenige Wesen, die als Devas hinscheiden, auch unter den Devas wiedergeboren. Weitaus mehr Wesen sind es aber, die als Devas hinscheiden und in der Hölle … im Tierschoß … im Bereich der hungrigen Geister wiedergeboren werden.“ …

„Ebenso nun auch, Ihr Mönche, werden wenige Wesen, die als De-vas hinscheiden, unter den Menschen wiedergeboren. Weitaus mehr Wesen sind es aber, die als Devas hinscheiden und in der Hölle … im Tierschoß … im Bereich der hungrigen Geister wiedergeboren werden.“

„Aus diesem Grund müsst Ihr Euch um folgende Erkenntnis bemühen: ‚Dies ist Leiden‘ … ‚Dies ist das Entstehen des Leidens‘ … ‚Dies ist das Verlöschen des Leidens.‘ Bemüht Euch um die Erkenntnis: ‚Dies ist der Weg, der zum Verlöschen des Leidens führt.‘“

SN 56.102-113

Den Glauben an eine Wiedergeburt nutzte der Buddha auch, um seine Hörer zu ermutigen, sich nicht durch die auf dem Pfad auftretenden Schwierigkeiten entmutigen zu lassen. Verglichen mit den Leiden der Wiedergeburt, sind diese Schwierigkeiten unbedeutend.

„Ihr Mönche, angenommen, es gäbe jemanden mit einer Lebensspanne von 100 Jahren, jemanden, der 100 Jahre alt werden würde. Und jemand würde ihm sagen: ‚Komm, Freund, sie werden dich zur Morgendämmerung mit 100 Speeren aufspießen, zur Mittagszeit mit 100 Speeren aufspießen und noch einmal am Abend mit 100 Speeren aufspießen. Und wenn du nun, da du so Tag für Tag mit 300 Speeren aufgespießt werden würdest, eine Lebensspanne von 100 Jahren erreichen und 100 Jahre alt werden würdest, dann wirst du nach diesen 100 Jahren die Vier Edlen Wahrheiten erkennen, die du nie zuvor erkannt hattest.‘“

„Ihr Mönche, eine Person, die ihr eigenes Wohl und Glück anstrebt, sollte sich dieses (Angebot) zu Herzen nehmen. Und warum? Das Weiterwandern ist ohne einen erkennbaren Anfang. Ein erster An-fang der (schmerzhaften) Schläge, die durch Speere, Schwerter und Äxte hervorgerufen werden, ist nicht zu finden. Und auch wenn dieses (Angebot) kommen würde, sage ich, dass das Erkennen der Vier Edlen Wahrheiten nicht von Schmerz und Leiden begleitet wäre. Vielmehr sage ich Euch, dass das Erkennen der Vier Edlen Wahrheiten mit Freude und Glück verbunden ist.“

„Welche vier Wahrheiten? Die Edle Wahrheit vom Leiden, die Edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens, die Edle Wahrheit vom Verlöschen des Leidens und die Edle Wahrheit vom Pfad, der zum Verlöschen des Leidens führt.“

„Aus diesem Grund müsst Ihr Euch um folgende Erkenntnis bemühen: ‚Dies ist Leiden‘ … ‚Dies ist das Entstehen des Leidens‘ … ‚Dies ist das Verlöschen des Leidens‘ … ‚Dies ist der Praxispfad, der zum Verlöschen des Leidens führt.‘“

SN 56.35

Prinzipiell kann der Pfad zur Beendigung des Leidens in einer Lebensspanne vollendet werden. Der Pāli-Kanon enthält viele Geschichten von Menschen, die das volle Erwachen erlangt haben, nachdem sie nur eine Lehrrede des Buddha gehört hatten, und in MN 10, (und anderen Lehrreden) heißt es, dass in einigen Fällen sogar nur eine siebentägige entschlossene Praxis ausreichen kann, um den Pfad zu vollenden. Dies gilt aber nur im Prinzip. Jedes Erwachen ist ein individueller Fall und der Buddha wusste dies, denn für die meisten seiner Zuhörer würde sich die Praxis über viele Existenzen erstrecken. Und man kann sich leicht vorstellen, dass viele seiner Zuhörer erkennen muss-ten, wie sehr sie in weltlichen Dingen verstrickt waren und dass sie in ihrem Leben nie genug freie Zeit haben würden, um sich voll und ganz der Praxis zu widmen. Und dies gilt auch heute noch. 

Anstatt sie zu bitten, den Pfad auf das einzuschränken, was sie innerhalb der Grenzen ihres gegenwärtigen Lebens einigermaßen verwirklichen können, ermutigte der Buddha sie mit einer Perspektive auf einen Pfad, der sich über viele Lebenszeiten erstreckt, um sie davon zu überzeugen, dass jegliche Anstrengungen, die sie auf dem Weg zum Erwachen auf sich nehmen würden, nicht umsonst wären. Aus gutem Grund setzte er die Messlatte hoch an: Nur wenn man eine realistische Aussicht auf das hat, was der Pfad zur Beendigung des Leidens tatsächlich mit sich bringt, wird es möglich sein, ihm zu folgen und die vollen Resultate zu erlangen.  

Gleichzeitig ermutigte der Buddha die Menschen auch auf ihrem Sterbebett, sich emotional von den verschiedenen Wiedergeburtsbereichen zu lösen. Er machte ihnen sogar deutlich, dass das volle Erwachen während dieser Ablösung tatsächlich verwirklicht werden kann. Auf diese Weise würden sie große Mengen an künftigem Schmerz und Leiden verhindern können( SN 55.54). Ginge man nur von einer Lebenszeit aus, würde man den Wert dieser Anstrengungen nicht erfassen – was bedeutet, dass die Ein-Leben-Perspektive das einem sterbenden Menschen innewohnende Potential unterschätzen würde: Stattdessen zieht man es vor, den Sterbenden nur zum Zweck der Schmerzlinderung so weit zu betäuben, dass er seine Achtsamkeit verliert. Weil ein betäubter Geist außerstande ist, dem Verlangen zu widerstehen, bedeutet dies, dass ein Sterbender aufgrund der Ein-Leben-Perspektive schwer benachteiligt wäre. Diese Ansicht wäre tatsächlich die selbstgefälligere und unverantwortlichere.

Neben der Motivation, den Pfad zu praktizieren, spielen die Vorstellungen von Karma und Wiedergeburt auch bei der Identifikation von Anhaftungen an Gestaltungen und anderen Prozessen, die sonst bei der Praxis übersehen werden könnten, eine wichtige Rolle. Glaubt man z. B. nicht, dass eine bestimmte Leidenschaft oder Freude in der Zukunft weitreichende Auswirkungen haben wird, und werden diese Gefühle augenblicklich als angenehm empfunden, dann könnte man ihre Bedeutung leicht unterschätzen und ihnen erlauben, im Geist weiter vor sich hin zu köcheln.

„Ihr Mönche, es gibt eine universale Leere, eine grenzenlose Finsternis, wo selbst das so mächtige und gewaltige Licht der Sonne und des Mondes nicht hinreicht.“

Auf diese Worte wandte sich einer der Mönche an den Erhabenen: „Erstaunlich, Ehrwürdiger, welch große Finsternis! Welch wirklich große Finsternis! Gibt es da eine Finsternis, die noch größer und furchterregender ist als diese?“

„Es gibt, Mönch, eine Finsternis, die noch größer und furchterregender ist als diese.“ „Und welche Finsternis, Ehrwürdiger, ist noch größer und furchterregender als diese?“

„Alle Asketen und Brahmanen, die nicht wirklichkeitsgemäß erkennen, wie ‚Dies ist Leiden‘ zustande gekommen ist; die nicht wirklichkeitsgemäß erkennen, wie ‚Dies ist das Entstehen des Leidens‘ zustande gekommen ist; die nicht wirklichkeitsgemäß erkennen, wie ‚Dies ist das Verlöschen des Leidens‘ zustande gekommen ist; die nicht wirklichkeitsgemäß erkennen, wie ‚Dies ist der Pfad, der zum Verlöschen des Leidens führt‘ zustande gekommen ist – alle jene erfreuen sich an Gestaltungen, die zur Geburt führen; sie erfreuen sich an Gestaltungen, die zum Altern führen; sie erfreuen sich an Gestaltungen, die zum Tod führen; sie erfreuen sich an Gestaltungen, die zu Kummer, Jammern, Schmerz, Leid und Verzweiflung führen. Indem sie sich an Gestaltungen erfreuen, die zu Geburt … Altern … Tod … Kummer, Jammern, Schmerz, Leid und Verzweiflung führen, gestalten sie Gestaltungen, die zu Geburt Altern … Tod … Kummer, Jammern, Schmerz, Leid und Verzweiflung führen. Und weil sie Gestaltungen gestalten, die zu Geburt … Altern … Tod … Kummer, Jammern, Schmerz, Leid und Verzweiflung führen, stürzen sie in die Finsternis der Geburt. Sie stürzen in die Finsternis des Alterns … des Todes … des Kummers, Jammerns, Schmerzes, des Leids und der Verzweiflung. Vom Leiden werden diese Asketen und Brahmanen nicht völlig erlöst, sage ich.“

SN 56.46

Nur wenn man anerkennt, dass das Potential eines noch so natürlich oder harmlos erscheinenden Anhaftens zu langanhaltenden Leiden führt, wird man bereit sein, es ernst zu nehmen und an seiner Überwindung zu arbeiten. Und nur dann wird man dem Pfad wirklich folgen.  

Im dritten Kapitel haben wir bereits erwähnt, dass eine Perspektive über viele Lebenszeiten hinweg es einfacher macht, auf dem Pfad des ethischen Verhaltens zu bleiben; dies gilt für die Pfadfaktoren der Rechten Rede, des Rechten Verhaltens und des Rechten Lebenserwerbs. Dasselbe Prinzip gilt auch für die Faktoren, die direkter mit der Meditation zusammenhängen. Dies kann anhand zweier Beispiele aus der meditativen Zweischritt-Strategie des Buddha veranschaulicht werden, die dazu dient, die Loslösung vom Anhaften und Verlangen zu entwickeln.

Zum ersten Schritt gehört es, sich auf die Nachteile des Sinnesverlangens zu konzentrieren, der zwanghaften Tendenz des Geistes, sich mit dem Planen von Sinnesbefriedigungen zu beschäftigen. Beschränkt man seine Ansicht ausschließlich nur auf eine Praxis, die ein einziges Leben umfasst, ist es schwer, den Einfluss und die Konsequenzen des Sinnesverlangens voll einzuschätzen. Die Evolution des Lebens hängt schließlich von diesem Verlangen ab und für viele Menschen stellt das Befriedigen der Sinne das einzige Vergnügen und Erlebnis dar, das sie überhaupt kennen. So ist es nicht schwer, Sinnesvergnügen als etwas Positives zu rechtfertigen. Selbst wenn man sich die vielen in diesem Leben augenscheinlich-sichtbaren Nachteile der Sinnesbefriedigung vor Augen hält, bleibt es dennoch Geschmackssache, inwiefern man die Nachteile als schwerwiegend genug empfindet, um sich von den Sinnesaktivitäten abzuwenden: Einige Menschen bevorzugen Frieden und Sicherheit, andere den in der Gefahr und im Risiko steckenden Nervenkitzel. Wenn alles in Vergessenheit und Vernichtung endet, wer kann dann noch sagen, dass schädliche Vergnügungen schlimmer sind als harmlose Vergnügungen? Wenn man aber die sich über viele Leben erstreckenden langfristigen Konsequenzen der Sinnesbefriedigung ernst nimmt, bekommt die Gleichung ein vollkommen anderes Gesicht. Dann kann leichter erkannt werden, dass die Freuden, die die Sinnesaktivitäten und Nervenkitzel bieten, ihren Preis nicht wert sind.

„Mit der Suche nach Sinnesbefriedigung als Grund, mit der Suche nach Sinnesbefriedigung als Ursache geschieht es … dass Menschen sich dem Fehlverhalten durch Körper, Sprache und Geist hingeben. Weil sie sich dem Fehlverhalten durch Körper, Sprache und Geist hingegeben haben, werden die Menschen bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, unter von Entbehrung geprägten Umständen, an einem unglücklichen Bestimmungsort, in niederen Bereichen, in der Hölle wiedergeboren.“

MN 13

Nur wenn es einem gelingt, die Sinnesvergnügen in diesem Licht zu sehen, ist man wirklich bereit, dem Pfad zu folgen, der imstande ist, das Sinnesverlangen als eine der Ursachen für Unzufriedenheit und Leiden vollkommen zu untergraben. Dennoch reicht selbst diese Erkenntnis nicht aus, um das Sinnesverlangen zu überwinden. Der Geist benötigt eine alternative Quelle der Freude, die er auf dem Praxispfad aufrechterhalten kann. Diese Freude wird durch Jhāna gewonnen, dem Pfadfaktor der Rechten Sammlung.

„Selbst wenn ein Schüler der Edlen mit rechter Weisheit der Wirklichkeit entsprechend erkannt hat, dass die Sinnesvergnügen mit viel Leid, viel Verzweiflung und großen Nachteilen verbunden sind, kann er – solange er noch keine Verzückung und Freude erfahren hat, die jenseits der Sinnesvergnügen liegen, die jenseits von unheilsamen Geisteszuständen liegen oder er etwas erfahren hat, das noch friedvoller ist als das – noch von Sinnesvergnügen verführt werden. Wenn er aber mit rechter Weisheit der Wirklichkeit entsprechend erkannt hat, dass die Sinnesvergnügen mit viel Leid, viel Verzweiflung und großen Nachteilen verbunden sind, und er eine Verzückung und Freude erfahren hat, die jenseits der Sinnesvergnügen liegen, die jenseits von unheilsamen Geisteszuständen liegen oder er etwas erfahren hat, das noch friedvoller ist als das, kann er von Sinnesvergnügen nicht verführt werden."

MN 14

Auch wenn die Glücksgefühle der Jhānas einen notwendigen Bestandteil des Pfades darstellen, sind sie dennoch nicht absolut sicher. Ins Jhāna einzutreten bedeutet auch, sich in einen Zustand des Werdens zu begeben, der auch zu einem Objekt des Anhaftens werden kann. Und weil einige der höheren Jhānas Gebiete wie das der Nichtsheit und der Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung berühren, können sie leicht mit Zuständen des Nichtwerdens verwechselt werden. Dies bedeutet, dass die Praxis der Jhānas, obwohl sie zur Überwindung der Sinnesbegierde beitragen kann, allein nicht ausreicht, um die zwei übrigen Arten des Verlangens, welche zu weiterem Leiden führen (das Verlangen nach Werden und das Verlangen nach Nichtwerden) zu überwinden.

Auch hier kann eine über viele Leben hinausgehende Perspektive nützlich sein, um diese subtilen Anhaftungen aufzuspüren. Diese Anhaftungen können sogar durch die Betrachtung des Nichtvorhandenseins eines Selbst ganz leicht übersehen werden, wenn sie nicht von dieser Perspektive durchdrungen ist. In MN 106 heißt es, dass es möglich ist, die Wahrnehmung vom Nichtvorhandensein eines Selbst zu entwickeln, diese auf alle Phänomene anzuwenden und in einen der höheren Jhāna-Zustände zu gelangen: in die Dimension der Nichtsheit. Hier wird eine subtile Form von Gleichmut erfahren, ein Gleichmut, der so subtil ist, dass das Anhaften daran gar nicht bemerkt wird. Wird nicht erkannt, dass selbst dieser Gleichmut künftige Gefahren in sich birgt, wird man auch diesen Zustand nicht ergründen wollen.

Dies mag der Grund dafür sein, warum viele Meditierende, welche sich auf die Ein-Leben-Perspektive beschränken, diesen Gleichmut für Nibbāna halten: Sie sehen nicht, dass es gute Gründe gibt, ihren Zustand des erhabenen Gleichmuts in Frage zu stellen, denn sie glauben, dass er ausreicht, um für den Rest ihres Lebens gut zurechtzukommen. Und wenn sie der materialistischen Ansicht anhängen, dass alles Erkennbare nur durch die Sinne erkannt werden kann, dann wäre dieser Gleichmut angesichts der Sinneserfahrung der größte Frieden, den sie sich vorstellen können. Wie aber der Buddha in SN 35:117 zeigt, gibt es eine Erfahrungsdimension jenseits der Sinne, in der durch die völlige Beendigung des Gestaltens ein viel größerer Frieden gefunden werden kann. Wenn man mit dem Bewusstsein dieser friedvolleren Dimension erkennt, dass sogar erhabene Ebenen des Gleichmuts zu langen Lebenszeiten führen können, aber auch jene Leben zu Ende gehen werden, ist man eher dazu geneigt – so der Buddha in MN 140 – jene Ebenen des Gleichmuts zu ergründen, um zu erkennen, wie sie zusammengesetzt und gestaltet sind. Nur durch dieses gründliche Nachforschen kann gegenüber den letzten Spuren scheinbar harmloser Gestaltungen, die der vollkommen Befreiung noch im Wege stehen, Loslösung entwickelt werden. 

In der Strategie des Buddha ist dies der zweite Schritt. In einer der Standardbeschreibungen über die Entwicklung der Loslösung von den Jhānas (MN 51; AN 4.124; AN 4.126) weist der Buddha uns zunächst einmal an, die Jhānas zu beherrschen: Die Anhaftung an diese Geisteszustände kann nur während der Praxis überwunden werden. Dann müssen die Geisteszustände, die das Jhāna aufrechterhalten, als Prozesse betrachtet werden (als Gestaltungen, die im Bedingten Entstehen unter die Faktoren Gestaltungen, Bewusstsein und Name fallen), um zu erkennen, dass auch sie ihre Kehrseiten haben. Dies lenkt die Aufmerksamkeit direkt auf die Faktoren, die in der Beschreibung (der verschiedenen Variationen) des Bedingten Entstehens als jene Punkte hervorgehoben werden, an denen die sich selbst erhaltenden und zum Leiden führenden Prozesse zum Stillstand gebracht werden können. 

Hier sieht man auch sehr deutlich, warum der Buddha all die zur Wiedergeburt führenden Faktoren als Prozesse beschrieben hat. Erreicht jemand, der auf der Suche nach seinem inneren Wesenskern oder dem Grund des Seins in der Welt ist, den Zustand des Jhāna, dann ist es möglich, dass dieser Zustand allzu leicht für das Gesuchte gehalten wird. Dies führt jedoch nur noch zu mehr Unwissenheit und Anhaften. Wird aber der Zustand des Jhāna als das Ergebnis von Handlungen und Prozessen betrachtet, ist es beim Erreichen dieser Ebene leichter, sich langsam vom Jhāna zu lösen, ohne das Gefühl zu haben, etwas Substantielles zu verlieren.

„Angenommen, ein Bogenschütze oder der Schüler eines Bogenschützen würde an einer Strohpuppe oder einem Lehmhaufen das Bogenschießen üben, so dass er nach einer Weile fähig wäre, auf weite Entfernungen zu treffen, in schneller Abfolge genaue Schüsse abzugeben und große Gegenstände zu durchlöchern. Ebenso ist es, wenn ein Mönch … in das erste Jhāna eintritt, das von anfänglicher und anhaltender Hinwendung des Geistes begleitet wird und voller Verzückung und Glücksgefühl ist, die aus der Abgeschiedenheit entstanden sind, und darin verweilt. Was auch immer mit Form, Gefühl, Wahrnehmung, Gestaltungen und Bewusstsein im Zusammenhang steht, betrachtet er als unbeständig, unbefriedigend, als eine Krankheit, als ein Geschwür, als einen Stachel, als schmerzhaft, als ein Übel, als etwas Fremdes, als Auflösung, als Leerheit, als Nicht-Selbst. Er wendet seinen Geist davon ab und lenkt ihn auf die Eigenschaft der Todlosigkeit: ‚Dies ist Frieden, dies ist erhaben – die Auflösung aller Gestaltungen; die Aufgabe aller Anhaftungen; das Ende des Verlangens; die Loslösung; das Verlöschen; Ent-Bindung; Nibbāna.‘“ [ebensolches gilt für das zweite, dritte und vierte Jhāna]

AN 9.36

In Übereinstimmung mit seinem Ansatz, nachdem erkannt werden soll, wie sich diese Prozesse auf vielen Ebenen manifestieren, rät der Buddha uns, sogar diesen Jhāna praktizierenden „Jemand“ als einen Prozess zu betrachten, der aus Gestaltungen zusammengesetzt ist. Wenn diese Betrachtung zu einem Gefühl der Loslösung von allen Gestaltungen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führt – auch von den Gestaltungen, die auf dem Pfad zur Anwendung kommen –, dann wird der Prozess, durch den das Verlangen zu einer weiteren Wiedergeburt führen kann, seiner Nahrung beraubt.

„Wo keine Gier nach physischer Nahrung ist, wo weder Freude, noch Verlangen danach vorhanden ist, findet das Bewusstsein keinen Halt, kommt nicht zum Wachsen. Wenn das Bewusstsein weder einen Halt findet, noch zum Wachsen kommt, gibt es kein Entstehen von Name-und-Form. Wo es kein Entstehen von Name-und-Form gibt, vermehren sich auch nicht die Gestaltungen. Wo sich die Gestaltungen nicht vermehren, kommt es künftig nicht mehr zum Entstehen von neuem Werden, dann gibt es keine künftige Geburt, kein Altern und kein Tod. Dort gibt es keinen Kummer, keine Betrübnis, keine Verzweiflung, sage ich Euch.“

[ebensolches gilt für die Nahrung des (Sinnes-) Kontakts, der Nahrung der geistigen Absicht und die Nahrung des (Sinnes-) Bewusstseins]

SN 12.64

„Wenn ein Mönch sich von der Gier nach der Eigenschaft der Form löst … der Eigenschaft des Gefühls löst … der Eigenschaft der Wahrnehmung löst … der Eigenschaft des Bewusstseins löst, dann ist aufgrund dieser Loslösung die Zufuhr abgeschnitten und das Bewusstsein kann keinen Halt mehr finden. Ein Bewusstsein, das auf diese Weise keinen Halt gefunden, nichts weiter angehäuft und ausgebrütet hat, ist befreit. Aufgrund seiner Befreiung ist es gefestigt. Aufgrund seines Gefestigtseins ist es zufrieden. Aufgrund seiner Zufriedenheit ist es nicht aufgeregt. Ohne Aufregung ist man innerlich aller Fesseln entledigt. Man erkennt: ‚Geburt ist beendet, das heilige Leben ist vollbracht, die Aufgabe ist erfüllt. Darüber hinaus gibt es nichts mehr in dieser Welt.‘“

SN 22.54

Was bleibt, ist eine Dimension frei von Geburt und Tod.

„Es gibt, Ihr Mönche, ein Ungeborenes − Ungewordenes − Ungeschaffenes − Ungestaltetes. Würde es da kein Ungeborenes − Ungewordenes − Ungeschaffenes − Ungestaltetes geben, dann wäre keine Befreiung von allem Geborenen − Gewordenen − Geschaffenen – Gestalteten erkennbar. Weil es aber eben ein Ungeborenes − Ungewordenes − Ungeschaffenes – Ungestaltetes gibt, ist eine Befreiung von allem Geborenen − Gewordenen − Geschaffenen – Gestalteten zu erkennen.“

— Ud 8.3

Diese Dimension wird durch einen Bewusstseinstyp charakterisiert, der außerhalb der Reichweite des Sinnesbewusstseins liegt, das zum Bedingten Entstehen und zum Bereich der sechs Sinne gehört; einen Bereich, den der Buddha „ALLES“ nennt. Dieses Bewusstsein ist vollkommen frei vom Leiden.

„‘Ein Bewusstsein ohne Oberfläche, endlos, nach allen Seiten leuchtend, wurde nicht durch die Erdhaftigkeit der Erde … nicht durch die Flüssigkeit des Wassers … nicht durch die Feuerhaftigkeit des Feuers … nicht durch die Windhaftigkeit des Windes … nicht durch die Allheit dieses ALLES erfahren.‘“

MN 49

Dieses Bewusstsein, das vollkommen unabhängig von Nahrung ist, wird im Pāli-Kanon mit der Metapher eines Lichtstrahls beschrieben, der nirgendwo einen Halt findet.

„So, als wäre da ein überdachtes Haus oder eine überdachte Halle, mit Fenstern nach Norden, Süden oder Westen. Wenn nun bei Sonnenaufgang ein Sonnenstrahl durch ein Fenster eindringt, wo wird dieser wohl landen?“

„An der nach Westen zugeneigten Wand, Ehrwürdiger.“

„Und wenn es keine nach Westen zugeneigte Wand gibt – wo wird er dann landen?“

 „Auf dem Boden, Ehrwürdiger.“

„Und wenn es keinen Boden gibt – wo wird er dann landen?“

„Auf dem Wasser, Ehrwürdiger.“ „Und wenn es kein Wasser gibt – wo wird er dann landen?“

„Dann wird er überhaupt nicht landen, Ehrwürdiger.“ „Genauso ist es, wenn es keine Gier nach physischer Nahrung … nach Kontakt … nach geistiger Absicht … nach Bewusstsein gibt. Wo es keine Freude, kein Verlangen gibt, dort kann das Bewusstsein weder einen Halt finden noch wachsen. Wo Bewusstsein weder einen Halt finden noch wachsen kann, können sich Name-und-Form nicht niederlassen. Wo sich Name-und-Form nicht niederlassen, gibt es kein Wachsen der Gestaltungen. Wo kein Wachsen der Gestaltungen stattfindet, wird künftig kein neues Werden produziert. Wo künftig kein neues Werden produziert wird, gibt es künftig keine Geburt, kein Altern, keinen Tod. Dort gibt es keinen Kummer, keine Betrübnis oder Verzweiflung, sage ich Euch.“

SN 12.64

Wie auch bei seiner Besprechung der Wiedergeburt hat der Buddha hier niemals eine metaphysische Erklärung dessen gegeben, was dieses Bewusstsein ist oder von welcher Art es sein könnte. Schließlich wäre es ein Fehler, die Wirklichkeit des Unbedingten mit dem Bezug auf das Bedingte zu rechtfertigen, da es weder von irgend einem „etwas“ noch von irgend einem „wie“ abhängt.

Dennoch hat der Buddha gezeigt, wie das Unbedingte erreicht werden kann: Deshalb ist seine Metapher für die Praxis ein Pfad. Ein Pfad, der auf einen Berg führt, lässt den Berg nicht entstehen, aber er bietet die Gelegenheit, auf diesem Pfad zum Berg zu gelangen. Der Praxispfad selbst lässt das Unbedingte nicht entstehen, bietet aber die Möglichkeit, das Unbedingte zu erreichen.

Bei der Beschreibung des vollen Erwachens eines Menschen berührt der Pāli-Kanon bei der Schilderung der damit einhergehenden Erkenntnis niemals die Frage, was oder von welcher Art dieses unbedingte Bewusstsein ist. Stattdessen beginnt die Erkenntnis immer mit der Gewissheit, dass die Befreiung von den āsavas (Gärstoffe/Ausströmungen/Triebflüsse) der Sinnlichkeit, des Werdens und der Unwissenheit (MN 19), erlangt wurde, zusammen mit der Gewissheit, dass diese Befreiung endgültig ist (MN 146). Dann werden die zukünftigen Implikationen dieser Befreiung bewusst (DN 29), beginnend mit der Gewissheit, dass es nun keine Wiedergeburt mehr geben wird. 

Die Erkenntnis seiner eigenen Befreiung schildert der Buddha so:

„Die Erkenntnis und die Einsicht kam mir: ‚Unerschütterlich ist meine Erlösung. Dies ist die letzte Geburt. Ein erneutes Werden wird es nun nicht mehr geben.‘“

SN 56.11

Die am meisten verwendeten Beschreibungen der Erkenntnisse, die mit der Verwirklichung der Arahantschaft einhergehen, schildern den gleichen Sachverhalt so:

„Mit der Erlösung ist die Erkenntnis: ‚Erlöst‘. Man erkennt: ‚Geburt ist beendet, das heilige Leben ist vollendet, die Aufgabe ist erfüllt. Darüber hinaus gibt es nichts mehr in dieser Welt.‘“

SN 35.28

„Und nachdem der Ehrwürdige Anuruddha in Abgeschiedenheit achtsam und entschlossen weilte, erreichte er nach nicht allzu langer Zeit das höchste Ziel des heiligen Lebens, für das Menschen aus guter Familie vom Haus fort in die Hauslosigkeit ziehen, nachdem er es im Hier-und-Jetzt für sich selbst erkannt und verwirklicht hatte. Er wusste nun: ‚Geburt ist beendet, das heilige Leben ist vollendet, die Aufgabe ist erfüllt. Darüber hinaus gibt es nichts mehr in dieser Welt.‘ Und so wurde auch der Ehrwürdige Anuruddha zu einem Arahant.“

AN 8.30

Das heißt, wenn der Geist zur Dimension der Gestaltlungen zurückkehrt, nachdem er eine umfassende Begegnung mit der Dimension des Ungestalteten erlebt und seine Befreiung verwirklicht hat, ist das Wissen, dass Geburt/Wiedergeburt sowohl auf der makroskopischen als auch auf der mikroskopischen Ebene überwunden wurde, das erste, das ihm spontan zuteil wird. Dieser Erkenntnis vom Ende der Geburt folgt die nächste Erkenntnis: dass auch alles Leiden ein Ende gefunden hat.

8. Die Ironie der modernen Argumente   

Menschen mit einer modernen materialistischen Anschauung von der Welt und dem Selbst setzen den Beschreibungen des Pāli-Kanons vom Wissen, das beim Erwachen verwirklicht wird, gewöhnlich drei Hauptargumente entgegen:

Das erste Argument besteht darin, dass diese Beschreibungen in ihren Augen einen Bereich berühren, der jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens liegt. Dieses Argument wird manchmal mit der Behauptung untermauert, dass die Beschreibungen des Pāli-Kanons gegen Kriterien verstoßen, die der Buddha selbst in anderen Lehrreden aufgestellt hatte. Darin ging es um das, was erkannt und nicht erkannt werden kann. Hierzu wird gewöhnlich folgende Passage zitiert:

„Was ist dies ALLES? Einfach das Auge und die Formen, das Ohr und die Töne, die Nase und die Gerüche, die Zunge und die Geschmäcke, der Körper und die Berührungsempfindungen, der Verstand und die Vorstellungen. Dies, Ihr Mönche, wird ALLES genannt. Jeder, der behaupten würde: ‚Ich werde solch ein ALLES zurückweisen und ein ALLES offenbaren, das vollkommen anders ist‘, würde bei einer Befragung nicht erklären können, worauf er seine Behauptung stützt, und darüber würde er in Kummer verfallen. Und warum? Weil es jenseits dieses Bereiches liegt.“

SN 35.23

Das Argument behauptet, dass hier mit „jenseits dieses Bereiches“ „jenseits aller Erkenntnismöglichkeit“ gemeint ist. Deshalb kann die Existenz einer Dimension, die jenseits der sechs Sinne liegt (wie das in MN 49 beschriebene Bewusstsein ohne Oberfläche), unmöglich erkannt werden. Dies würde jede Behauptung, dass solche Dinge erkannt wurden, unwirksam machen und damit implizieren, dass auch die Freiheit von der Wiedergeburt, die eine solche Erkenntnis voraussetzt, unwirksam ist.

Es gibt jedoch deutliche Beweise, dass „jenseits dieses Bereiches“ einfach nur „jenseits einer zureichenden Beschreibung“ bedeutet, denn es gibt andere Passagen im Pāli-Kanon, die zeigen, dass, obwohl diese jenseits der sechs Sinne liegende Dimension nicht zureichend beschrieben werden kann, sie dennoch der Erkenntnis zugänglich ist.

Ehrw. Mahā-Kotthita: „Kann es sein, dass, nachdem die sechs Grundlagen des Sinneskontakts [Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Berühren und Denken] restlos erloschen und verschwunden sind, noch etwas ist?“

Ehrw. Sāriputta: „Sage so etwas nicht, Freund.“

Ehrw. Mahā-Kotthita: „Kann es sein, dass, nachdem die sechs Grundlagen des Sinneskontakts [Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Berühren und Denken] restlos erloschen und verschwunden sind, nichts mehr ist?“

Ehrw. Sāriputta: „Sage so etwas nicht, Freund.“

Ehrw. Mahā-Kotthita: „Kann es sein, dass, nachdem … erloschen und verschwunden sind, sowohl noch etwas ist als auch nichts mehr ist?“

Ehrw. Sāriputta: „Sage so etwas nicht, Freund.“

Ehrw. Mahā-Kotthita: Kann es sein, dass, nachdem … erloschen und verschwunden sind, weder noch etwas ist noch nichts mehr ist?“

Ehrw. Sāriputta: „Sage so etwas nicht, Freund.“

Ehrw. Mahā-Kotthita: „Auf die Frage … ob da noch etwas ist, antwortest du: ‚Sage so etwas nicht, Freund.‘ Auf die Frage … ob da nichts mehr ist, antwortest du: ‚Sage so etwas nicht, Freund.‘ Auf die Frage … ob da sowohl noch etwas ist als auch nichts mehr ist, antwortest du: ‚Sage so etwas nicht, Freund.‘ Auf die Frage … ob da weder etwas ist noch nichts mehr ist, antwortest du: ‚Sage so etwas nicht, Freund.‘ Wie hat man nun diese Aussage zu verstehen, Ehrwürdiger?“

Ehrw. Sāriputta: „Zu sagen, dass nach dem restlosen Verlöschen und Verschwinden der sechs Grundlagen des Sinneskontakts noch etwas ist … oder nichts mehr ist … oder sowohl etwas ist als auch nichts mehr ist … oder weder etwas ist noch nichts mehr ist, bedeutet, dass man etwas vergegenständlicht, das nicht zu vergegenständlichen ist. Wie weit die sechs Grundlagen des Sinneskontakts auch immer reichen, so weit reicht eben das Vergegenständlichen. Wie weit das Vergegenständlichen auch immer reicht, so weit reichen auch die sechs Grundlagen des Sinneskontakts. Mit dem restlosen Verlöschen und Verschwinden der sechs Grundlagen des Sinneskontakts ist das Verlöschen und Zur-Ruhe-Kommen des Vergegenständlichens.“

AN 4.174

„Ihr Mönche, Ihr solltet Euch die Erfahrung von der Dimension, in der das Auge [das Sehen] verlischt und die Wahrnehmung von Formen vergeht, zu eigen machen. Die Erfahrung der Dimension, in der das Ohr verlischt und die Wahrnehmung der Klänge vergeht … in der die Nase verlischt und die Wahrnehmung von Gerüchen vergeht … in der die Zunge verlischt und die Wahrnehmung von Geschmäcken vergeht … in der der Körper verlischt und die Wahrnehmung von Berührungsempfindungen vergeht … in der der Geist verlischt und die Wahrnehmung einer Vorstellung/eines Phänomens vergeht: Die Erfahrung dieser Dimension solltet Ihr Euch zu eigen machen.“

— SN 35.117

So weist nichts in den Lehrreden des Pāli-Kanons darauf hin, dass der Buddha einer modernen materialistischen Ansicht zugestimmt hätte, die die Erfahrung auf die sechs Sinne begrenzt. Und es ist zu bezweifeln, dass er versucht hätte, seine Behauptungen in Begriffen zu rechtfertigen, die moderne Materialisten akzeptieren würden. Schließlich sagte er, dass der Erfahrungsbereich eines Buddha und der Erfahrungsbereich eines sich im Zustand des Jhāna Befindlichen zu den „nicht-erfassbaren Dingen gehören, über die man nicht nachdenken sollte, denn sie würden jeden, der über sie nachdenkt, verwirren und in den Wahnsinn treiben“ (AN 4.77). Dies bedeutet, dass er die Art von Mutmaßungen, die Materialisten (oder andere) darüber anstellen könnten, zu welchen Erkenntnissen ein im Beherrschen der Jhānas oder im Erreichen der höchsten Erwachensstufe geschulter Geist gelangen kann oder nicht, nie unterstützen würde.

Ein zweites Argument, das heutzutage den kanonischen Berichten über das Wissen beim Erwachen (insbesondere das dabei erlangte Wissen um die Wiedergeburt) entgegengesetzt wird, besteht darin, dass die Praxis auch dann zu Resultaten führen kann, wenn die Möglichkeit einer Wiedergeburt nicht akzeptiert wird. Schließlich sind alle zum Leiden führenden Faktoren dem Gewahrsein unmittelbar zugänglich; somit ist es nicht notwendig, dass jede Annahme über ihre denkbaren Konsequenzen in der Zukunft akzeptiert werden muss, wenn man sich bereits darum bemüht, diese Faktoren zu überwinden.

Dieser Einwand ignoriert allerdings die Rolle, die die richtig gelenkte Aufmerksamkeit auf dem Pfad spielt. Wie bereits erwähnt, besteht eine ihrer Aufgaben darin, diejenigen Theorien zu untersuchen und aufzugeben, die den eigenen Ansichten über die Metaphysik einer persönlichen Identität zugrunde liegen. So lange die Bereitschaft fehlt, sich von den eigenen Ansichten zu distanzieren – z. B. diejenigen, die sich um die Definition einer Person drehen, und warum dies Wiedergeburt unmöglich macht – und sie dieser Art von Untersuchung zu unterziehen, fehlt dem eigenen Pfad etwas. Dann bleibt man weiterhin in Fragen verstrickt, die sich aus der falsch gelenkten Aufmerksamkeit ergeben und die verhindern, dass die Leidensursachen identifiziert, überwunden und die Resultate der Praxis voll und ganz erreicht werden.

Darüber hinaus haben die Begriffe der richtig gelenkten Aufmerksamkeit (die Vier Edlen Wahrheiten) nicht nur mit Ereignissen zu tun, die im gegenwärtigen Augenblick entstehen und vergehen. Sie fokussieren sich auch auf die kausalen Verbindungen innerhalb jener Ereignisse: Verbindungen, die sowohl in der unmittelbaren Gegenwart, als auch im Lauf der Zeit auftreten. Konzentriert man sich nur auf gegenwärtige Zusammenhänge und ignoriert diejenigen, die erst im Laufe der Zeit sichtbar werden, kann man die Wege, durch die das Verlangen Leiden verursacht, nicht völlig verstehen: nämlich nicht nur durch das Festhalten der vier Arten von Nahrung, sondern auch, indem es diese vier Arten der Nahrung produziert.

Dieser enge Fokus blockiert das eigene Vermögen, die Rechte Ansicht zu entwickeln; insbesondere behindert er das Erkennen des Bedingten Entstehens als ein sich selbsterhaltender Prozess. Wenn man das Bewusstsein entsprechend der materilaistischen Standardansicht als bloßes Nebenprodukt materieller Prozesse betrachtet, dann ist es nicht möglich, die ganze Macht des Bewusstseins und des Verlangens, Nahrung zu generieren, die die Leidensprozesse unendlich fortführen können, zu verstehen. Und wenn diese Macht nicht voll und ganz verstanden wird, ist es nicht möglich, diese wirksam zu beenden.

Ein drittes Argument gegen das Akzeptieren der Wiedergeburtserkenntnis als notwendiger Teil des Erwachens ist, dass viele Menschen, die heutzutage behaupten, die Stufen des Erwachens entsprechend der kanonischen Beschreibungen erfahren zu haben, keine Erkenntnis von der Wiedergeburt oder vom Ende der Wiedergeburt als Teil jener Erfahrungen erlangten. Dass die Menschen zur Zeit des Buddha behaupteten, diese Art von Erkenntnis während ihres Erwachensprozesses gehabt zu haben, kann somit als kulturelles Artefakt abgeschrieben werden. Aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes waren sie darauf vorbereitet, diese Erfahrung so zu machen; aus diesem Grund handelte es sich nicht wirklich um einen wesentlichen Teil der Erfahrung.

Dieses Argument hat jedoch zwei Schwachstellen. Die erste ist, dass die Wiedergeburt zur Zeit des Buddha – wie wir oben gesehen haben – keine allgemein anerkannte Theorie gewesen war. Zur Erwachenserfahrung jedes Menschen gehört – damals wie heute –, selbst nachzuprüfen, ob der Buddha diesbezüglich recht hatte.

Die zweite, aufschlussreichere Schwachstelle dieses Arguments ist, dass es sich eigentlich selbst widerspricht. Wenn die eigenen Erwachenserfahrungen nicht mit den im Pāli-Kanon beschriebenen übereinstimmen, warum würde man dann jenen Erfahrungen noch die Etiketten des Pāli-Kanons aufdrücken wollen? Ein wesentlicher Bestandteil bereits der ersten Erwachensstufe (Stromeintritt), wie sie im Pāli-Kanon beschrieben wird, ist die Bestätigung der Rechten Ansicht (MN 48), zur der die Erkenntnis gehört, dass es eine Dimension ohne Tod und Geburt gibt (Mv.I23.5) und dass es eine Ebene des Verlangens gibt, welche – wenn sie nicht überwunden wird – zur erneuten Geburt führen wird. Im Gegensatz zu den unteren Erwachensstufen, die der Pāli-Kanon anerkennt, trägt die Verwirklichung der Arahantschaft das charakteristische Merkmal, dass dieses Verlangen und somit auch die Geburt zum Verlöschen gebracht wurde. Wenn der Pāli-Kanon hinsichtlich dieser Punkte unrecht hat, dann sind die Begriffe, die er für die Beschreibung der Erwachensstufen verwendet, ebenfalls falsch.

Wenn die eigene Erwachenserfahrung nicht mit den Beschreibungen des Pāli-Kanons übereinstimmt, wäre man also gut beraten, zu ergründen, warum man dieser Erfahrung ein dem Pāli-Kanon entnommenes Etikett aufdrücken will. Und wenn der eigene Lehrer diese Erfahrung mit einer kanonischen Bezeichnung bestätigt hat, dann sollte das Wissen und die Motivation des Lehrers ebenfalls untersucht werden. Und soll das Leiden ernsthaft überwunden werden, dann täte man gut daran, sich die Aussagen des Pāli-Kanons zu Herzen zu nehmen, die immer wieder betonen, dass, wenn das eigene Erwachen den Prozess von Werden und Geburt nicht beendet hat, die Möglichkeit des Leidens weiterhin bestehen bleibt. 

Die Ironie bei allen drei Argumenten gegen die Lehre der Wiedergeburt ist, dass alle, die diese Argumente hervorbringen, davon ausgehen, der Buddha sei nicht fähig gewesen, die Anschauungen seiner Zeit zu hinterfragen. Und doch sind sie selbst nicht bereit, die Herausforderung des Buddha, Abstand zu nehmen, zu akzeptieren und ihre eigenen Ansichten zu hinterfragen. Wir wissen, wie der Buddha auf den Materialismus seiner Zeit reagierte, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er auf den heutigen Materialismus anders reagieren würde. 

Man könnte einwenden, dass der moderne Materialismus heute anspruchsvoller ist als zur Zeit des Buddha und somit ernsthafter Beach-tung verdient. Aber ist das wirklich so? Die Fragen, die von heutigen Neurobiologen zum Thema Bewusstsein gestellt werden – „Was ist Identität? Was überhaupt ist Bewusstsein? Wie kann Bewusstsein nach materiellen Maßstäben beurteilt werden?“ – gehören genau zu den Fragen, die der Buddha unter dem Begriff der falsch gelenkten Aufmerksamkeit aufführte. Auch wenn heutige wissenschaftliche Experimente und Versuche differenzierter sein mögen als die des Prinzen Pāyāsi, sind die Wissenschaftler, welche an derartigen Versuchen arbeiten, gleichermaßen verblendet, wenn sie glauben, dass ein phänomenologischer Prozess (das Bewusstsein und die geistigen Ereignisse, die innerlich erfahren werden) in physischen Begriffen erfasst und gemessen werden kann. Obwohl die Wiedergeburt oft als eine unwissenschaftliche Ansicht dargestellt wird, ist die materielle Wissenschaft außerstande, dieses Phänomen auf die eine oder andere Weise zu beweisen.

Die Wirksamkeit des menschlichen Handelns kann mithilfe der wissenschaftlichen Methode niemals bewiesen werden, denn es ist nicht klar, ob die Wissenschaftler, die diese Methode anwenden, beim Konzipieren und Durchführen ihrer Experimente tatsächlich ihren freien Willen ausüben. Genauso wenig können sie beweisen, ob ihr Handeln beim Konzipieren und Durchführen eines Experiments tatsächlich einen Einfluss auf das Ergebnis des Experiments hat. Wissenschaftliches Forschen und Begutachten handelt gewiss so, als seien diese Theorien wahr – die Vorstellung, ein schlecht konzipiertes Experiment zu kritisieren, würde keinen Sinn ergeben, wenn die Wissenschaftler beim Planen ihrer Experimente keinen freien Willen hätten. Und wenn wir nach äußerlichen Merkmalen urteilen können, dann ist die Annahme eines freien Willens und die Verantwortung, die er mit sich bringt, entscheidend gewesen, weil dies die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis möglich gemacht hat. Die wissenschaftliche Methode selbst kann jedoch nicht nachweisen, ob das Auftreten des freien Willens und der Auswirkungen des Handelns irgendetwas anderes ist als eine Erscheinung. Und natürlich ist da die Ironie, dass viele Wissenschaftler glauben, die von ihnen beobachteten Phänomene würden nach streng deterministischen Gesetzen funktionieren, obwohl die von ihnen angewendete Methode voraussetzt, dass sie selbst – während der Durchführung dieser Methoden – solchen Gesetzen nicht unterworfen sind. Dies bedeutet, dass die Wissenschaft nicht in der Position ist, die Lehren des Buddha über die Tragweite und Macht des mensch-lichen Handelns zu beweisen oder zu widerlegen.

Schlussendlich ist da die Frage, wie berechtigt es ist, die psychologischen Einsichten des Buddha von seinem kosmologischen Aspekt zu trennen. Wie wir bereits im ersten Kapitel bemerkt haben, wurde im Westen (beginnend mit der europäischen Romantik und den amerikanischen Transzendentalisten) lange angenommen, dass die Kosmologie die rechtmäßige Sphäre der Naturwissenschaften ist, während die Religion sich auf die Seelsorge beschränken sollte. Aber eine der zentralen Einsichten, zu welcher der Buddha während seines Erwachens gelangte, war, dass auf der mikroskopischen Skala des Geistes stattfindende Ereignisse tatsächlich die Erfahrungen auf der makroskopischen Skala in Zeit und Raum formen. Wenn wir die klare Grenze, die unsere Kultur zwischen der Psychologie und der Kosmologie zieht, nicht hinterfragen können, werden wir nicht begreifen, wie die Einsichten des Buddha tatsächlich bei der Beendigung des Leidens in Bezug auf diese Frage helfen können.

So stehen wir also vor einer Wahl. Wenn wir den aufrichtigen Wunsch haben, das Leiden zu beenden, und die Lehren des Buddha einem fairen Test zu unterziehen, dann müssen wir auch untersuchen, wie weit wir uns selbst durch das Festhalten an unseren eigenen kulturellen Theorien einengen, anstatt anzunehmen, dass der Buddha ein Gefangener seiner Zeit war und es nicht vermochte, die damals herrschenden kulturellen Theorien zu hinterfragen. Wenn wir uns von unseren selbst auferlegten Beschränkungen nicht trennen wollen, können wir dennoch von all den Lehren des Buddha profitieren, die in diese Grenzen passen. Die Konsequenzen werden wir jedoch akzeptieren müssen, denn die Resultate unseres Handelns werden genauso begrenzt sein. Nur wenn wir bereit sind, uns dem Test der richtig gelenkten Aufmerksamkeit zu unterziehen, und die Annahmen und Theorien, die unser Denken über Fragen wie Karma und Wiedergeburt verzerren, aufgeben, werden wir die Werkzeuge, die uns der Pāli-Kanon zur vollkommenen Befreiung zur Verfügung stellt, richtig nutzen können.

Glossary   

Arahant:
Ein „Würdiger“ oder eine „reine/lautere Person“. Ein Mensch, dessen Geist von allen Verunreinigungen befreit ist und der einer erneuten Wiedergeburt nicht mehr unterworfen ist. Ein Titel für den Buddha und die seiner Edlen Schüler und Schülerinnen, welche den höchsten Verwirklichungsgrad erreicht haben.
Āsava:
Fermentation/Gärung, Ausströmungen/[Trieb-]Flüsse. Sie besitzen vier Eigenschaften – Sinnlichkeit, Ansichten, Werden und Unwissenheit –, die aus dem Geist „herausströmen“ und zu den Fluten anschwellen, die die Runde von Tod und Wiedergeburt erschaffen.
Brahmā:
Ein Bewohner der höheren himmlischen Bereiche der Form oder der Formlosigkeit.
Brahman:
Ein Mitglied der Priesterkaste, die für sich beanspruchte, die höchste Kaste in Indien zu sein. Mitglied in dieser Kaste kann man nur durch Geburt werden. In der buddhistischen Terminologie kann mit dem Begriff „Brahmane“ auch ein Arahant gemeint sein, um zu verdeutlichen, dass die hervorragende Eigenschaft nicht von der Geburt oder Rasse abhängig ist, sondern von den Qualitäten, die im Geist erlangt wurden. 
Deva (devatā):
Wörtl. „der/die Strahlende“. Ein Wesen auf den Ebenen der Sinnlichkeit, der Form oder der Formlosigkeit, welches entweder in irdischen oder in himmlischen Bereichen lebt. 
Dhamma:
Skt. Dharma. (1) Ereignis; Handlung; (2) ein Phänomen an und für sich; (3) eine geistige Eigenschaft; (4) eine Doktrin, Lehre; (5) Nibbāna (obwohl es Passagen gibt, die Nibbāna als das Aufgeben aller dhammas beschreiben).
Gotama:
Der Name des Familienklans des Buddha.
Jhāna:
Geistige Versenkung. Ein Zustand starker Konzentration auf eine einzige Empfindung oder geistige Vorstellung.
Kamma:
(Skt. Karma) (1) Absichtliches Handeln; (2) die Folgen des absichtlichen Handelns.
Nibbāna:
Skt. Nirvāṇa. Wörtl. „Ent-Bindung“ des Geistes von Gier, Widerwillen und Verblendung und der Runde von Tod und Wiedergeburt. Da dieser Begriff auch das Ausgehen eines Feuers bezeichnet, trägt es ebenfalls Konnotationen wie Stillung, Abkühlung und Frieden. 
Pāli:
Die Sprache des ältesten vorhandenen Kanons buddhistischer Lehren.
Saṃvega:
Bestürzung über die Sinnlosigkeit der gewöhnlichen menschlichen Lebensweise.
Sutta:
Lehrrede.
Tathāgata:
Wörtl. jemand, der „authentisch geworden (tatha-āgata)“ ist oder der „wahrhaftig gegangen (tathā-gata)“ ist: Ein Beiname, mit dem im alten Indien eine Person bezeichnet wurde, die das höchste religiöse Ziel verwirklicht hat. Im Buddhismus wird gewöhnlich der Buddha damit bezeichnet; gelegentlich wurden aber auch alle seiner Arahant-Schüler so bezeichnet. 
Upādāna:
Anhaften, das vier Formen annehmen kann: Anhaften an Sinnesvergnügen, an Gewohnheiten und Praktiken, an Ansichten und an Theorien über das Selbst.

Abkürzungen   

Texte des Pāli-Kanons:

AN:
Aṅguttara Nikāya
Dhp:
Dhammapada
DN:
Dīgha Nikāya
MN:
Majjhima Nikāya
Mv:
Mahāvagga
SN:
Saṃyutta Nikāya
Sn:
Sutta Nipāta
Ud:
Udāna

Vedische Texte:

BAU:
Bṛhadāraṇyaka Upaniṣad
ChU:
Chāndogya Upaniṣad
KaṭhU:
Kaṭha Upaniṣad

Verweise auf den DN und MN beziehen sich auf die Lehrrede (sutta). Ein Verweis zum Mv bezieht sich auf Kapitel, Abschnitt und Unterabschnitt. Verweise auf andere Pāli-Texte beziehen sich auf Abschnitt (saṃyutta, nipāta oder vagga) und auf die Lehrrede. Alle Übersetzungen aus dem Pāli-Kanon wurden vom Autor angefertigt und basieren auf der Royal Thai Edition (Bangkok: Mahāmakut Rājavidyālaya, 1982).