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J 86
{Sutta: J i 371|J 086|J 086} {Vaṇṇanā: atta. J 086|atta. J 086}
Die Erzählung von der Tugenduntersuchung
086
Silavimamsana-Jataka (Sīlavīmaṃsakajātakaṃ)
übersetzt aus dem Pali ins Deutsche:
Julius Dutoit

Die Tugend nur ist schön fürwahr

[§A]

Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf einen die Tugend auf ihren Wert prüfenden Brahmanen. Dieser lebte nämlich bei dem Könige von Kosala; er hatte die drei Zufluchten angenommen [1], befolgte beständig die fünf Gebote und war ein Kenner der drei Veden. Der König dachte: „Dieser ist tugendhaft“, und erwies ihm ungewöhnliche Ehre. — Nun dachte dieser: „Dieser König ehrt mich weit mehr als die anderen Brahmanen; gar sehr sieht er auf mich mit seinen Ehrenerweisungen [2]. Erweist er mir nun wohl diese Ehre wegen meiner Herkunft, meines Geschlechts, meiner Familie, meiner Wissensfülle [3] oder wegen meiner Tugendfülle? Ich will es gleich untersuchen.“ Und eines Tages, als er dem Könige seine Aufwartung gemacht hatte und nach Hause ging, nahm er von dem Brette eines königlichen Schatzmeisters, ohne um Erlaubnis zu fragen, ein Kahapana und ging damit fort. Der Schatzmeister blieb wegen der Ehrung, die der Brahmane genoss, sitzen, ohne etwas zu sagen. Am nächsten Tage nahm jener zwei Kahapanas. Der Schatzmeister war auch damit einverstanden. Am dritten Tage aber nahm jener eine Handvoll Kahapanas. Da sagte der Schatzmeister zu ihm: „Heute ist es der dritte Tag, dass du das Vermögen des Königs beraubst“; und er rief dreimal: „Ich habe einen Dieb gefangen, der das Vermögen des Königs beraubt.“ Da kamen die Leute von allen Seiten zusammen und sagten: „Solange bist du jetzt wie ein Tugendhafter gewesen!“ Und sie gaben ihm zwei oder drei Schläge, fesselten ihn und führten ihn zum Könige. Der König sprach vorwurfsvoll: „Warum, o Brahmane, hast du eine so böse Tat vollführt?“ und sagte zu den anderen: „Gehet, vollziehet an ihm die königliche Strafe [4]!“ Der Brahmane versetzte: „Ich bin kein Dieb, Großkönig.“ „Warum nahmst du aber von dem Brette des königlichen Vermögens die Kahapanas?“ Darauf erwiderte der Brahmane: „Ich tat dies, da du mir Ehre erwiesest, um zu untersuchen, ob mir der König wegen meiner Herkunft u. dgl. übermäßige Ehre erweise oder wegen meiner Tugend. Jetzt habe ich aber deutlich erkannt: Weil du mich wegen meiner Tugend ehrtest, nicht wegen meiner Herkunft u. dgl., deshalb hast du jetzt über mich die Königsstrafe verhängt. Aus diesem Grunde bin ich zu dem Schlusse gekommen, dass in dieser Welt die Tugend allein das Höchste, die Tugend allein das Vorzüglichste sei. Wenn ich aber dieser Tugend entsprechend handeln will, so werde ich nicht dazu im Stande sein, solange ich im Hause weile und die Befleckungen genieße. Heute noch werde ich nach dem Jetavana gehen und beim Meister Mönch werden; gib mir die Erlaubnis, die Welt zu verlassen.“ Als er vom Könige die Erlaubnis erhalten, brach er nach dem Jetavana auf. Da versammelten sich seine Verwandten, Freunde und Angehörigen und wollten ihn zurückhalten; da sie es aber nicht konnten, kehrten sie um. Er begab sich aber zu dem Meister und bat um die Aufnahme in den Mönchsstand.

Als er aufgenommen war und die Weihe erhalten hatte, war er unausgesetzt tätig, stärkte seine übernatürliche Einsicht und gelangte zur Heiligkeit. Darauf ging er zum Meister hin und verkündete ihm seine Erreichung des höchsten Wissens, indem er sprach: „Herr, wir sind zum Gipfel des Mönchtums gelangt.“

Diese seine Verkündigung von seiner Erreichung der Heiligkeit wurde unter der Mönchsgemeinde bekannt. Eines Tages nun versammelten sich die Mönche in der Lehrhalle und setzten sich nieder, indem sie folgendermaßen von dessen Vorzug erzählten: „Freunde, der Brahmane so und so, der Aufwärter des Königs, hat seine Tugend auf ihren Wert geprüft, sich vom Könige verabschiedet und so die Heiligkeit erlangt.“ Da kam der Meister und fragte: „Zu welcher Erzählung, ihr Mönche, habt ihr euch jetzt hier niedergelassen?“ Und als er zur Antwort erhielt: „Zu der und der“, sprach er: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, hat dieser Brahmane, da er seine Tugend auf ihren Wert untersuchte, die Welt verlassen und sich dadurch Heil verschafft, sondern auch schon in früherer Zeit haben Weise, da sie ihre Tugend auf ihren Wert untersuchten, die Welt verlassen und sich dadurch Heil verschafft.“ Und nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

[§B]

Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, war der Bodhisattva dessen Hauspriester. Er war ein eifriger Spender von Almosen [5], nach Tugend begierig und hielt ununterbrochen die fünf Gebote. Der König ehrte ihn weit mehr als die übrigen Brahmanen und so weiter ganz wie oben.

Als aber der Bodhisattva gebunden zum Könige geführt wurde, spielten Schlangenbeschwörer auf der Straße mit einer Schlange; sie fassten sie am Schwanze und am Halse und schnürten ihr die Kehle zu. Als der Bodhisattva sie sah, sprach er: „Ihr Lieben, packt doch diese Schlange nicht am Schwanze oder am Halse und schnürt ihr nicht die Kehle zu; denn sie könnte euch beißen und dadurch des Lebens berauben.“ Die Schlangenbeschwörer erwiderten: „Die Schlange, o Brahmane, ist tugendhaft und von gutem Wandel, eine solche ist nicht von üblem Betragen; du aber wirst jetzt infolge deines schlechten Betragens, deines üblen Wandels gefesselt dahingeführt [6] als ein das Vermögen des Königs plündernder Dieb.“ Da dachte jener bei sich: „Selbst die Schlangen erhalten, solange sie nicht beißen und nicht verletzen, den Namen tugendhaft; um wie viel mehr, ach, die Menschen! Die Tugend nur ist auf dieser Welt das Höchste; es gibt nichts Wertvolleres als sie.“

Darauf führte man ihn zum Könige hin. Der König sprach: „Was ist dies, Freunde?“ „Er ist ein das Vermögen des Königs plündernder Dieb.“ „Belegt ihn darum mit der Königsstrafe.“ Da sprach der Brahmane: „Ich bin kein Dieb, o Großkönig.“ Als der König ihn fragte, warum er denn die Kahapanas genommen habe, erzählte er alles in der oben angegebenen Art. Nachdem er die Worte gesagt: „Aus dieser Begebenheit habe ich den Schluss gezogen, dass in dieser Welt die Tugend allein das Höchste, die Tugend allein das Vorzüglichste sei“, fügte er hinzu: „Mag dies nun so sein. Solange die Giftschlange nicht beißt und nicht verwundet, bekommt sie den Namen tugendhaft; darum ist die Tugend nur das Höchste, die Tugend das Wertvollste.“ Indem er so die Tugend pries, sprach er folgende Strophe:

[§1] „Die Tugend nur ist schön fürwahr, das Höchste ist sie auf der Welt; sieh, von der gift'gen Schlange heißt's ‘der Tugend voll’, nichts tut man ihr.“

Nachdem der Bodhisattva so mit dieser Strophe dem Könige die Lehre auseinandergesetzt hatte, gab er die Lüste auf, betätigte die Weltflucht der Weisen und begab sich nach dem Himalaya; und nachdem er die fünf Erkenntnisse und die acht Vollkommenheiten erlangt hatte, gelangte er in den Brahma-Himmel.

[§C]

Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beendigt hatte, verband er das Jātaka mit folgenden Worten: „Damals war die Königsschar die Buddhaschar, der Hauspriester aber war ich.“

Ende der Erzählung von der Tugenduntersuchung

Anmerkungen:

1.
Er war also Laienbruder.
2.
Childers übersetzt: „making me his spiritual director“. Doch scheint mir diese Auffassung von „garum katva“ nach dem Folgenden nicht richtig zu sein.
3.
„Fülle“ gehört eigentlich auch zu den drei vorausgehenden Substantiven.
4.
D. h. die Strafe, die auf die Aneignung königlichen Gutes gesetzt ist. Als Königsstrafe wird im Allgemeinen die Todesstrafe bezeichnet.
5.
Die Emendation von Fausböll, der „danadhimutto“ stall des überlieferten „danadimutto“ vorschlägt, halte ich für notwendig, da die Lesart der Handschriften gerade den entgegengesetzten Sinn gäbe.
6.
Ich folge dem Vorschlage von Steinthal (Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, Neue Folge 12, S. 394), statt des überlieferten „niyasi“ „niyasi“ zu lesen.
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